Rumänien: Die Müllmenschen von Oradea

Im Rauch

 

 

 

 

Von wie wenig kann man leben?

Mariusz hat aufgehört um sein Leben zu schreien. Er winselt nur still vor sich hin und schlägt in quälender Monotonie mit dem Kopf. Immer wieder greifen seine dürren Ärmchen ins Leere. Denn da ist niemand. Keine Brust, die ihn stillt, kein Arm der ihn wiegt, keine Stimme, die ihn tröstet. Mit achtzehn Monaten spricht der Junge keine einzige Silbe, er kann nicht einmal krabbeln. Abgelegt zwischen Plastikplanen und ausrangierten Ölfässern kauert Mariusz Lakatos stundenlang auf einer schmierigen Decke. Fliegen umschwirren sein Gesicht und kleben auf den schwärenden Brandwunden seiner rechten Hand. Die Fingerkuppen sind weggebrannt. „Das kommt von dem Auto, das Unglück gebracht hat“, klagt seine Mutter Maria und deutet auf einen ausgebrannten Dacia, der auf der städtischen Müllhalde von Oradea vor sich hinrostet.

Das Schrottauto diente Maria Lakatos und ihren Kindern als Schlafplatz. Bis das Wrack eines Nachts aus unerfindlichen Gründen in Flammen stand. Drei ihrer Kinder holte Maria unversehrt aus dem Feuer. Die acht Monate alte Olivia liegt noch immer mit schweren Brandverletzungen in der Kinderklinik von Oradea. Ihren Bruder Mariusz gaben die rumänischen Ärzte nach zweiwöchiger Behandlung mit einer Dose Milchpulver zurück an seine Mutter. Romeo brachten sie in ein Waisenheim. Die Mediziner stellten fest: dem Kleinen fehlten die Zehen. „Aber das war nicht das Feuer“, sagt Maria. „Das waren die Ratten. Die fressen alles.“

Die Dritte Welt beginnt sechs Autostunden östlich von Wien. Am Rande der Westkarpaten knapp hinter der ungarischen Zollstation liegt die rumänische 250.000 Einwohner-Grenzstadt Oradea. Unübersehbar, das alte siebenbürgische Großwardein ist längst aus dem Schatten des düsteren Ceausescu-Reiches herausgetreten. Die Fassaden des mittelalterlichen Stadtkerns erstrahlen in restauriertem Glanz, in der schmucken Einkaufszone flanieren Teenies auf überdimensionierten Plateauschuhen, und in den Cafés signalisiert das pausenlose Gepiepe der Handys den Aufstieg der neureichen Krawattenträger. Der freie Fall in den sozialen Abgrund indes findet ein paar Kilometer weiter nördlich statt: auf der städtischen Müllkippe im Stadtteil Episcopia Bihor. In einem Sumpfgebiet, wo fauliges Wasser Blasen wirft und der Rauch kokelnden Abfalls zum Himmel steigt, leben „die Schwarzen“. So nennen die Rumänen die Zigeuner.

Weil sie selbst in den ärmsten Roma-Vierteln Oradeas keinen Platz fanden, zogen ganze Familienclans schon vor zehn, zwanzig Jahren auf die Müllhalde. Arbeitslos und ohne einen Lei in der Tasche konnten die Oroszs, die Angels und die Lakatos Miete, Strom und Essen nicht mehr bezahlen. Heute leben 120, manchmal sogar 200 Zigeuner mitten im Unrat. Die meisten von ihnen sind Kinder. Maria Lakatos zählte neun Jahre, als die Not ihrer Eltern sie mit ihren Geschwistern auf die Müllkippe verschlug. Mit dreizehn brachte Maria ihr erstes Kind zur Welt. Heute ist sie dreiundzwanzig und sechsfache Mutter. Und der Vater? Maria zuckt mit den Schultern. „Abgehauen. Ich bin froh, dass er weg ist. Er hat immer nur geprügelt, weil der Wodka sein Gehirn kaputtgemacht hat.“

„Die Männer trinken bis sie umkippen. Wir Frauen können das nicht. Wir müssen für die Kinder sorgen“, sagt Marias Schwester Hajni. Dann legt die 24-Jährige ihre zwei Monate alte Tochter Edina in einen Sperrmüllkinderwagen und kramt einen Plastikbeutel hervor. Der ist voll Zigarettenkippen. Die krümeligen Tabakreste drehen die Frauen in Zeitungspapier und rauchen. Ihre Kinder spielen derweil im Qualm des schwelenden Mülls oder hocken stumm zwischen Bergen von Klebstoffeimern, die ein Unternehmer auf der Halde entsorgt hat. Die eingetrockneten Leimreste kauen die Kinder gegen den Hunger. „Das Essen reicht nicht mehr für alle“, sagt Wilma, die ihr Alter auf „ungefähr 20“ schätzt und gerade mit ihrem siebten Kind schwanger ist. „Wir sind zu viele Leute hier und es kommen immer mehr.“

Der Kampf um die täglichen Lebensmittel beginnt morgens um sieben. Sobald die ersten Müllwagen auf die Halde rollen, wühlen die Roma mit eisernen Schürhaken nach Essbarem. Weil es auf der Müllkippe kein Frischwasser gibt, stillen sie ihren Durst aus angebrochenen Cola-Flaschen und halbleeren Getränkedosen. Kinder verschlingen angefaultes Obst und kratzen die letzten Marmeladenreste aus schmutzigen Gläsern, während die Frauen nach Gemüse und altem Brot stochern. In einem aufgeschnittenen Blechkanister brät Wilma Lakatos für ihre Kinder ein paar Abfallkartoffeln. Als Brennmaterial dient schwarzrauchender Kunststoff. „Man muss ständig aufpassen“, sagt sie, „sonst klauen einem die anderen den Topf leer.“

Müllmenschen gibt es zu Tausenden überall auf der Welt. „Aasfresser“ nennen sie sich selbst, sie sammeln recycelbare Abfälle und sortieren sie, um sie weiterverkaufen. Die „Aasfresser“ von Oradea irren dagegen nur planlos auf der Halde umher. Selten finden sie Brauchbares. Wer kauft schon eine ausgelaufene Autobatterie oder ein paar Stromkabel mit kaputten Steckern? Der 28-jährige Jozeph Orosz, der seit 20 Jahren auf der Müllkippe lebt, sammelt trotzdem derlei Dinge. Vor ein paar Jahren noch konnte er manchmal etwas Alteisen losschlagen. An „einen Chef im Centro“, dessen Namen er nicht kennt. Doch die Preise für Glas, Papier oder Altmetall sind derzeit so niedrig, dass sich nicht einmal der Transport lohnt. Für ein Kilo Blech bezahlt die Schrottfirma „Comat“ den Roma 80 Lei, 130 Lei gibt es für ein Kilo Eisen. Das ist nicht einmal ein Cent. Der Monatsverdienst von Jozeph Orosz reicht bestenfalls für ein paar Schachteln billiger Carpati-Zigaretten und einige Flaschen Fusel.

600.000 Lei, umgerechnet etwa 22 Euro, stehen jedem mittellosen Bewohner aus Oradea laut Gesetz an städtischer Sozialhilfe zu. Für die Roma auf der Müllkippe allerdings gilt dieses Gesetz nicht. Denn Anspruch auf staatliche Hilfe hat nur, wer einen festen Wohnsitz nachweisen kann. Doch das können die Müllmenschen nicht. Denn ein paar leere Ölfässer mit Presspappe in Episcopia Bihor gelten nicht als Wohnung. „Es stimmt“, sagt Rozalia Biro, Bürgermeisterin von Oradea, „bislang hat die Stadtverwaltung das Schicksal der Roma mehr oder weniger ignoriert.“ Die 36-Jährige aber will nicht so weitermachen wie ihr Vorgänger Istvan Kapy, der in den letzten acht Jahren die Geschicke der Stadt lenkte. Die Müllmenschen hatten ihn nie interessiert. Sein Motto lautete: „Wer hat, dem wird gegeben. So steht es in der Bibel. Die Roma haben keine Papiere, keine Ausweise, keine Urkunden, nichts. Wir wissen ja noch nicht einmal, ob sie überhaupt zu unserer Stadt gehören. Ohne Ausweise und Geburtsurkunden kann man ihnen nicht helfen. Und wir sind nicht dafür verantwortlich, wenn diese Leute keine Papiere haben.“

In spätestens zehn Jahren soll Oradea auf EU-Niveau sein, die Nähe zum künftigen EU-Land Ungarn und die niedrigen rumänischen Löhne locken seit mehreren Jahren westliche Investoren an, Tausende neuer Arbeitsplätze wurden geschaffen, die Textil- und Schuhindustrie blühte auf. Die Stadt investiert in ihre Infrastruktur,  in moderne Fernwärmeheizungen und eine neue Trinkwasserversorgung. Nur für die Menschen im Müll war niemand im Rathaus zuständig.

Das soll sich ändern, verspricht Rozalia Biro. Als ersten Schritt hat sie im Frühjahr eine statistische Erhebung in Auftrag gegeben, „um überhaupt erstmal festzustellen, wer alles auf der Müllhalde lebt“.

Von einer Existenz als rumänische Staatsbürger trennen Maria Lakatos und ihre Kinder nicht nur die fehlenden amtlichen Dokumente, von denen Maria sagt, sie seien in dem Unglücksauto verbrannt. „Die Menschen von der Müllkippe leben außerhalb der Zivilisation. Ja, sie sind im Grunde gar nicht existent“, sagt Uitz Gyöngyi, die Direktorin der Caritas-Polyklinik in Oradea. Von den rund 13000 Patienten, die jährlich die medizinische Versorgungsstation aufsuchen, haben 60 Prozent kein Geld. Doch sie alle werden kostenlos versorgt. „Von den Cigany allerdings war noch niemand da. Die fallen völlig aus dem System heraus“, so Frau Gyöngyi.

Von den ungezählten kirchlichen und sozialen Hilfswerken aus Westeuropa, die nach dem Sturz Ceausescus Rumänien flächendeckend mit karitativen Einrichtungen versorgten, hat bislang keines den Weg nach Epicopia Bihor gefunden. Und die Roma verlassen ihren Hort des Elends so gut wie nie. Die Männer dämmern nur apathisch vor sich hin, während sich die Frauen oft schämen in die Stadt zu gehen. „Was sollen wir dort“, fragt Maria Lakatos, „wir sind dreckig und unsere Kleider stinken.“

So bleiben schwere chronische Erkrankungen unbehandelt. Vor allem bei den Kindern. Parasiten und Würmer zerstören ihre Verdauungsorgane, der beißende Qualm und die eisigen Winter greifen ihre Lungen an, schlimme Hautentzündungen können nicht heilen. Auch gegen die geistige Abstumpfung tun die Behörden nichts. Das Gesetz zur Schulpflicht interessiert auf der Halde nicht. „Die Roma und ihre Kinder sind die Verlierer der Demokratie“, meint die Caritas-Ärztin Gyöngyi. „Für sie hat das freie Rumänien nichts gebracht.“

Mit dem Wort „Demokratie“ kann Laszlo Lakatos nichts anfangen. Er weiß nicht, was damit gemeint sein könnte. Er bringt noch nicht einmal den Satz über die Lippen, den man unter den Arbeits- und Obdachlosen Rumäniens immer häufiger hört: „Unter Ceausescu war alles besser.“ Ob ein Diktator regiert oder irgendeine Partei, das ist für den 48-Jährigen, der seit drei Jahrzehnten im Müll lebt, „alles ganz egal“. Seine Frau Ilona nickt zustimmend. Dann wendet sie sich wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung zu. Ilona Wilk liest. Das können nur wenige auf der Halde. Unbeirrt vom Geschrei ihrer Enkel liegt sie stundenlang auf einer verschlissenen Matratze, blättert in alten Illustrierten und löst die Kreuzworträtsel.

„This life is not a good life.“ Ilona Horwarth sagt das auf Englisch. Als einzige Nicht-Roma auf der Halde fällt „die weiße Frau“ auf. Vor zwanzig Jahren hat die Rumänin ungarischer Abstammung das Abitur gemacht. Sie hatte Arbeit, genau wie ihr Ehemann Laszlo, der in der Elektrizitätsversorgung beschäftigt war. Bis er krank wurde. Laszlo krempelt sein Hemd hoch und zeigt die Ursache seiner Arbeitslosigkeit. Sein entstellter Leib zeugt von einem halben Dutzend stümperhafter Operationen.

„Wir zogen hierher, weil wir unsere Wohnung in der Stadt aufgeben mussten. Hier brauchen wir kein Geld für Essen und Miete“, erklärt Ilona. Doch vier Jahre auf der Halde haben sie gezeichnet. Die Zähne sind Ilona ausgefallen, ihre Beine sind vereitert. Das einzige, was ihr blieb, ist ein Traum. Sie will nicht, dass ihr kleiner Sohn Norbi im Abfall groß wird. Ilona Horwarth wehrt sich dagegen, dass ihr die Müllkippe zur inneren Heimat wird, dass ihr der Müll den letzten Funken des Gespürs für ihre Würde nimmt. Doch sie ahnt auch: aus eigener Kraft kann sie den Traum vom besseren Leben nicht verwirklichen. Denn das hängt ab von der Antwort auf die Frage: „Wo sollen wir bloß hin?“
Erschienen in „Brigitte“, 2002