Bangladesh: Keine Schläge, keine Furcht

Meti-Schule_Lernhöhle

 

Die METI-Schule
fördert die Freude am Lernen

Morgens um fünf ist Poritosh auf den Beinen. Denn sein Vater ist Geschäftsmann. In einem Bambusverschlag mit ein paar Bänken und groben Holztischen betreibt Tinesh Dev Sharma einen „Tea-Shop“. Auch abends, nach einem langen Schultag, hat Poritosh alle Hände voll zu tun und erinnert ein wenig an den vierarmigen Brahma, den hinduistischen Schöpfergott, der stets eine Gebetskette, ein Buch und ein Gefäß mit Wasser, dem Quell des Lebens, in den Händen hält. Während sein Vater gewürzten Tee aufbrüht, schleppt Poritosh Wasser und Feuerholz an, serviert, räumt ab, spült Gläser, reicht Maiscracker und zerreißt alte Zeitungen, in die er frittierte Gemüsekugeln aus Dal, Ingwer und Chili einwickelt. Die brutzelt seine Mutter Bashonti in siedendem Öl über dem Lehmofen. Zwischendurch kassiert Poritosh ab. Beiläufig reichen ihm die Männer abgegriffene Geldscheine, zerfledderte Papierlappen, einen Taka pro Glas. Das sind 1,1 Cent. Mit einem Schuss Milch kostet der Tee das Doppelte. Und davon wird eine fünfköpfige Familie nicht reich, auch nicht in Vishnapur, wo man mit einem Dach aus Wellblech bereits Wohlstand bekundet. Familie Sharma jedoch wohnt in einer strohgedeckten Hütte. Wie die meisten im Dorf. Doch Sharma ist ein Mann, der „nicht stehen bleiben will“. Vor allem will er nicht, dass sein 15-jähriger Sohn für den Rest seines Lebens in einem verräucherten Schuppen Tee verkaufen muss.

„Ich will Ingenieur werden. Oder Computertechniker“, bekundet Poritosh. Klar, das wollen viele Jungen in seinem Alter. Aber nicht in Vishnapur, Ramchandrapur oder Rudrapur! Hier kommt ein solcher Berufswunsch einer Revolution gleich. Maschinenbauer, Arzt, Architekt, Jurist, das wird hier niemand. Und hier sitzt auch niemand am Computer. In den Dörfern im Norden Bangladeshs gibt es nicht einmal Strom. Hier sitzt man seine Jahre in der Volkschule ab. Anschließend baut man Reis, Mais oder Jute an. Hier hütet man Ziegen, firmiert als Gemüsehändler oder schlägt sich mit einem Kiosk durch, mit Hartkeksen, Kernseife und Betelnüssen. Und wenn die Sonne versinkt, hockt man unter der Kerosinfunzel, raucht, spielt Karten oder schweigt, während die Frauen am Dorfteich sitzen und hören wie die Frösche quaken und die Zikaden schreien.

Der junge Mitun, erzählen die Männer beim Tee, wollte einst raus aus dem Dorf, wollte in der Hauptstadt gutes Geld verdienen. Er zog nach Dhaka. Akkordmaloche am Webstuhl. Zwölf Stunden am Tag. Sechs Tage die Woche. Nach Abzug für Schlafpritsche und Kost blieb vom Lohn nichts übrig, und nach einem halben Jahr kam Mitun zurück, so arm wie er gegangen war. „Wer vom Land kommt, ohne jede Bildung, ohne Lesen und Schreiben zu können, der geht in der Großstadt unter“, sagt Prodip Tigga von der Entwicklungsorganisation Dipshikha. Zwar gibt es auf dem Land öffentliche Schulen, doch wenn die Jungen und Mädchen aus Rudrapur nach fünf Jahren Unterricht vor den Prüfungsaufgaben sitzen, fallen sie regelmäßig durch. „Das Lernniveau ist so niedrig, dass noch kein Schüler den Test bestanden hat“, meint Prodip. Vom erfolgreichen Abschluss der Klasse 10 gar nicht zu reden. Der ist für den Zugang zum College erforderlich, das wiederum den Weg zu einem Studium eröffnet. Aber die Universitäten in den Millionenstädten Dhaka oder Chittagong sind für die Landschulkinder fern wie der Mond. Doch das wird sich ändern. Mit den „Tsumamis“. Mit Jungen und Mädchen wie Poritosh, Preeta, Subraoto oder Vishnu. Denn sie besuchen das METI, eine reformpädagogische Ganztagsschule, in der so ziemlich alles anders ist als in den ländlichen Paukanstalten.

Schon die Namen der Klassen sind Programm. Sie werden im METI nicht mit den phantasielosen Ziffern von eins bis zehn bezeichnet, sondern nach den Erscheinungsformen des Elements Wasser. „Aus dem Wasser ist alles Leben entstanden“, so der Lehrer Rongon Roy. Daher beginnen die Schulanfänger im METI ihre Laufbahn im „Regen“. Über die „Quelle“ gelangen sie im dritten Jahr in den „Fluss“. Es folgen „See“ und „Ozean“, bis die Kinder über die „Wolke“ und den „Sturm“ schließlich die drei letzten Klassen erreichen: „Tornado, Hurrikan und Tsunami“. Das klingt eher nach Katastrophen, zumal das Land am Golf von Bengalen regelmäßig von verheerenden Überschwemmungen heimgesucht wird, doch Rongon Roy beruhigt: „Wir sehen das Wasser nicht als zerstörende Macht, sondern als die nährende Kraft von Veränderung und Erneuerung.“

Kein Mucks ist zu hören, wenn sich die METI-Schüler zur Einstimmung auf den Unterrichtstag morgens um acht zu einer gemeinsamen Meditation sammeln. Anschließend stehen die klassischen Fächer auf dem Stundenplan. Wenn sich die „Tsunamis“ die mathematischen Gesetze trigonometrischer Funktionen erschließen oder englische Gedichte interpretieren, dann drücken sie keine harten Holzbänke, sondern scharen sich auf Bastmatten um ihren Lehrer Roy. Entspannt und konzentriert. Gelehrt und gelernt wird in Gruppen von maximal 15 Schülerinnen und Schülern. „Undenkbar in den Volksschulen“, meint Vishnu. „Da lernt man nichts, außer vor dem Lehrer zu kuschen.“ Für die aufgeweckten METI-Schüler hingegen stehen freie Rede, Theater und Rollenspiele ebenso auf dem Lehrplan wie Singen und Tanzen Schneidern und Töpfern. Während trägt der kleine Utton umringt von seinen Klassenkameraden im „Ozean“ das Protokoll einer Debatte zum Thema Luftverschmutzung vorträgt, basteln sich die Jungen aus der „Wolke“ Mobiltelefone aus Ton, und die „Hurrikan-Mädchen“ erlernen unter der Anleitung des Trommellehrers Adu vertrackte rhythmische Figuren. Nicht als kreative Spielerei, vielmehr „zur Schulung des persönlichen Ausdrucks“.

Weltweites Aufsehen erregt das METI mit der Einweihung eines neuen Schulgebäudes im Jahr 2005. Seitdem sammeln die Österreicherin Anna Heringer und der Berliner Eike Roswag Auszeichnungen internationaler Architektenverbände für ihr „visionäres ökologische Design“. Die Baumeister bewiesen: Materialien wie Lehm, Stroh und Bambus müssen nicht zwangsläufig Insignien von Armut und Unterentwicklung sein. Während eine Lehmhütte in Bangladesh, aufgeweicht von Regen und Feuchtigkeit, nach wenigen Jahren zusammenfällt, optimierte das Architektenteam die traditionellen Baumethoden und bezog Lehrer, Schüler und lokale Handwerker in die Errichtung ihrer „handmade school“ ein. Statt öden Klassenzimmern schufen sie wunderbare atmosphärische Räume, in der Lehren und Lernen einfach Spaß macht. Offen, warm und licht. Doch Heringer und Roswag wollen nicht bloß ein „Bedürfnis nach Schutz und Geborgenheit“ befriedigen. Für sie ist ihre Architektur verknüpft „mit dem Schaffen von Identität und Selbstvertrauen, die Basis jeder nachhaltigen und zukunftsfähigen Entwicklung“.

In einem halben Jahr werden die Jungen und Mädchen der Tsunami-Klasse ihr Examen ablegen. Damit der Abschluss am METI staatlich anerkannt wird, müssen die Absolventen ihre Prüfung an der öffentlichen Schule in Rudrapur ablegen. „Angst vor den Aufgaben“, lacht Preeta in ihrem orangefarbenen Sari, „nein, die haben wir nicht. Wir sind bestens vorbereitet.“ Und Poritosh meint ohne Anflug von Überheblichkeit: „Die Frage ist nicht, ob wir bestehen, sondern wie gut.“ Lehrer Roy teilt die Einschätzung. „Eine Quote um die neunzig Prozent dürften unsere Schüler schon erreichen.“ Damit lägen die METI-Schüler in Bangladesh weit über dem Landesdurchschnitt.

METI steht für „Modern Education and Training Institute“. Darunter kann sich Poritoshs Vater nichts Genaues vorstellen. Aber Tinesh Dev Sharma ist sich sicher: „Eine bessere Schule gibt es hier nicht. Die Lehrer sind freundlich, und die Kinder werden nicht angeschrieen und verprügelt.“ Das hat sich in der Region Rudrapur herumgesprochen. Immer mehr Eltern melden ihre Kinder in den Dorfschulen ab und in der METI-Schule an. Von den 207 Jungen und Mädchen hier will niemand mehr an eine öffentliche Schule zurück.

„Ständig erhielten wir Schläge“, erzählt Subraoto. „Wenn wir schwatzten. Wenn wir die Hausarbeiten vergessen hatten oder eine Aufgabe nicht auf Anhieb verstanden. Die Lehrer halfen nicht, sie tobten und griffen zum Stock.“ Auch Vishnu graust vor seinen Jahren in seiner Dorfschule. Vishnu ist ein gewitzter Bursche von sechzehn Jahren, mit wachen Augen hinter einer dicken Brille. Hochintelligent, nur manchmal stottert er ein wenig. „In den Dorfern bringen dir unfähige Lehrer bei, dass du ein Versager bist. Wenn ich mit der Antwort zu langsam war, musste ich meinen Kopf unter die Bank stecken. Eine halbe Stunde lang. Das war anstrengend und schmerzhaft.“ Und entwürdigend. Weit mehr als jähzornige Wutattacken, Schimpfkanonaden und Stockhiebe nagten die subtilen Methoden der Demütigung auch am Selbstwert der 13-jährigen Bonoshree. „Am schlimmsten waren diese Blicke, wenn ich vor der Tafel stand und eine Matheaufgabe nicht hinkriegte. Diese Verachtung in den Augen des Lehrers, die vergesse ich nicht.“

„Singen und Tanzen! Lächerlich! Du wirst durch das Examen fallen und im Leben scheitern“, wurde Kolpuna Rany Roy von ihrem Schulleiter prophezeit, weil sie als junge Erwachsene von der Staatsschule zum METI wechselte. „Das Beste, was mir passieren konnte“, sagt sie. Heute ist Kolpuna 27 und unterrichtet an der METI-Schule Bengali, Englisch, Mathematik und Allgemeinwissen. Aber sie entspricht nicht mehr dem alten Typus des autoritären Paukers. Am METI man versteht sich nicht als „teacher“, sondern als „facilitator“, als Unterstützer, der wie Kolpuna sagt, „ständig selber dazulernt und den Kindern freundlich, verständnisvoll und wohlwollend begegnet“.

Statt auf ridige Ordnungsregeln, strenge Disziplin und Autoritätshörigkeit setzt die METI-Schule auf Kreativität, Eigenverantwortung und selbstständiges Denken. Das dauernde Singen der Nationalhymne und die Marschparaden in Reih und Glied mögen im ehemaligen Westbengalen ebenso ein Erbe der britischen Kolonialherrschaft sein wie das monotone Abspulen auswendig gelernter Texte. Aber wie soll sich ein Staat, dessen Bewohner pro Jahr und pro Kopf 380 US-Dollar an Bruttosozialprodukt erwirtschaften, ein effizientes und humanes Bildungssystem leisten? In der Statistik der bevölkerungsreichsten Länder steht die Volksrepublik Bangladesh mit 135 Millionen Einwohnern auf Platz sieben. Mit 1045 Bewohnern auf einem Quadratkilometer ist es das am dichtesten besiedeltste Land der Erde. Drei von vier Menschen leben auf dem Land. Die Hälfte der männlichen Bewohner sind Analphabeten. Unter den Frauen beträgt die Quote erschreckende 69 Prozent. Trotz Schulpflicht.

„Die Lehrer in den Dörfern verwechseln Respekt mit Furcht“, sagt Prodip Tigga. „Sie zerstören die Freude am Lernen. Wer das METI verlässt, soll nicht satt und lernmüde sein, sondern wach und hungrig.“ Prodip führt die Arbeit weiter, die sein Vater Paul bereits vor drei Jahrzehnten auf den Weg brachte. Der Gründer der Organisation Dipshikha, „Lichtfunke“, machte die ganzheitliche und langfristige Entwicklung der ländlichen Regionen zu seiner Lebensaufgabe, durch die Verbesserung landwirtschaftlicher Anbaumethoden, durch Gesundheits- und Hygieneaufklärung, die Vergabe von Kleinkrediten, vor allem aber durch Schul- und Bildungsmaßnahmen. „Anders lässt sich die Landflucht nicht stoppen“, sagt Prodip und fügt hinzu: „Aber es wäre ungerecht, dem staatlichen Schulsystem zu unterstellen, es sei nicht reformwillig.“

So hat die Regierung für Eltern einen finanziellen Anreiz geschaffen, ihre Töchter zur Schule zu schicken. Nach Alter der Mädchen erhalten sie zwischen 30 und 50 Taka, maximal 55 Cent im Monat. Gerade auf dem Land gelten die Mädchen vielen Eltern als Last. Mädchen kosten Geld. Und Mädchen mit Schulbildung kosten viel Geld. Ursache ist die unselige Tradition der Mitgift. „Mit steigendem Bildungsgrad junger Frauen wachsen auch die Ansprüche an einen künftigen Ehemann“, erklärt Prodip. „Ein Mädchen, das sich für das College qualifiziert, will keinen Reisbauern heiraten, der nie im Leben ein Buch lesen wird.“ Das heißt: umso höher der soziale Status des künftigen Mannes, desto höher ist die Mitgift, die die Brauteltern zu entrichten haben. Bei den Ärmsten sind 30.000 Taka, gut 300 Euro, das Minimum. Bei einem Hochschulabsolventen steigt der Preis schnell um das Zehnfache. Bezahlt wird mit Geld, Motorrädern, TV-Geräten und neuen Möbeln.

„Für die Ausbildung meiner Kinder gebe ich alles“, sagt Tinesh Dev Sharma. Nun hat er für Poritoshs ältere Schwester Rany eine gebrauchte Nähmaschine erstanden. Für umgerechnet 19 Euro, die es mühsam abzustottern gilt. „Schneidern hat meine Tochter im METI gelernt. Damit ist sie unabhängig und kann zum Unterhalt ihrer Familie beitragen.“ Obwohl Sharma von morgens bis abends schafft, wirft sein Teeladen nicht genug ab, um die 200 Taka Schulgeld für seinen Sohn zu bezahlen. 2,15 Euro pro Monat liegen für viele Bauern und Tagelöhner jenseits aller finanziellen Möglichkeiten. So erhalten die meisten METI-Kinder ein Stipendium über Dipshikha. Für Poritosh ist die spendenfinanzierte Hilfe Anreiz und Verpflichtung. Dass er vor dem Läuten der Schulglocke schon seit Stunden Tee verkauft hat, lässt er sich im Unterricht nicht anmerken. „Manchmal bin ich schon etwas müde, aber ich reiße mich zusammen.“ Der Unterstützer Roy zweifelt nicht, dass sein Schüler aus dem Kreislauf der dörflichen Armut aussteigen wird. „Mathematik und logisches Denken, das liegt Poritosh. Computer wären das richtige für ihn.“ „Sehe ich auch so“, sagt sein Vater, greift ein schmieriges Putztuch und wischt sich in seiner Teebude den Schweiß von der Stirn. Dann spricht er den unzählige Male gehörten väterlichen Wunsch aus. Aber er sagt nicht: Mein Sohn soll es einst besser haben. Tinesh Dev Sharma sagt: „Mein Sohn wird es besser haben.“