Ägypten: Vom Schatten ins Licht

Kyrullus

Behinderte Kinder:
im Heim der Muttergottes vom Frieden

 

Magda ist aufgeregt. Schon den ganzen Vormittag rennt sie umher und lädt jede und jeden ein. Zu ihrer Geburtstagsfeier. Alle gratulieren, schütteln Magdas Hände. Mariannes Augen leuchten voller Vorfreude hinter ihren dicken Brillengläsern. Gina lässt sogar für einen Moment ihre Handtasche aus den Augen und reibt sich erwartungsfroh die Hände. Selbst die reizbare Atiat, die eben noch aus undurchsichtigem Anlass vor Ärger unter die Decke ging, strahlt übers ganze Gesicht. Und der freundliche Aschraf sowieso. Wenn erst die Musik ertönt, wird er mit gekonntem Hüpfschwung jeden glauben machen, an ihm sei eine Bauchtänzerin verloren gegangen. Eine Party wird es geben, mit süßer Limonade und einem mächtigen Kuchen, garniert mit kandierten Früchten und Zuckerguss. Und sie, die Gastgeberin Magda, wird im Mittelpunkt stehen. Alles wird sich um sie drehen. Dann die bittere Enttäuschung. Abends kauert das verhinderte Geburtstagskind allein in einer Ecke, schmollt mit beleidigter Schnute. Keine Fete, keine Cola, keine Torte. „Magda ist ein bisschen verrückt“, meinen die jungen Deutschen Dorothee, Annika und Lukas einhellig. Seit knapp einem Jahr absolvieren die drei Abiturienten in Kairo ein soziales Praktikum, und Magdas Spielchen in dem Behindertenheim der Muttergottes vom Frieden sind ihnen bestens vertraut. „Magda hat überhaupt nicht Geburtstag, aber sie will ständig feiern.“

„Ich will trinken. Ich will schlafen. Ich muss mal.“ Aber Mina hat keinen Durst, er ist auch nicht müde, und er muss auch nicht zur Toilette. Beim flüchtigen Hinschauen erweckt der Neunjährige mit dem schwarzen Wuschelkopf den Eindruck eines kerngesunden Jungen. Wären da nicht seine Augen, deren leerer Blick sich seltsam im Nirgendwo verflüchtigt; wären da nicht dieselben Sätze, die Mina wiederholt, stundenlang, wie vom Endlosband; wären da nicht die Gewaltausbrüche, die unkontrollierten Aggressionen, von denen Heimkamerad Kyrillus mit seinem blauen Auge ein Lied zu singen weiß.

„Verdammt sei deine Religion. Verdammt! Verdammt!“ Mina flucht und schimpft sich in Rage, doch Schwester Tabisa bleibt ruhig. Und lächelt. Die Frau in der blauen Ordenstracht der Kleinen Schwestern Jesu weiß, sie ist nicht gemeint und auch nicht ihr christlicher Glaube. Wenn die Leiterin des Wohnheims der Madonna vom Frieden sagt: „Ich danke dir, oh Herr“, dann wiederholt Mina: „Ich danke dir, oh Herr. Ich danke dir, oh Herr!“ Mina ist Autist und in sich selbst gefangen. „Er redet ständig“, so sein Betreuer Lukas, „aber er versteht nicht. Er spricht nur Laute nach.“ Ob Mina schon krank zur Welt kam oder ob seine Behinderung daher rührt, dass sein irrer Vater Stühle auf dem kleinen Kerl zerschlug und ihm ein Messer in Kopf und Hals stieß, weiß niemand im Heim. Und mitunter scheint es auch heilsam, für das Glück im Hier und Jetzt die Bilder der Vergangenheit zu begraben. So wie bei Amel. Tagelang war sie in einem Zimmer eingesperrt, bis der Verwesungsgeruch in dem Mietshaus unerträglich wurde. Als Nachbarn die Tür einschlugen, saß das verstörte Mädchen stumm am Bett neben der Leiche ihrer Mutter.

30 geistig behinderte Kinder und Erwachsene leben unter dem Schutzmantel der „Lady of Peace“. Hinzukommen 25 Jungen und Mädchen, die bei ihren Eltern wohnen und vormittags die heimeigene Schule besuchen: Spastiker, Autisten, Blinde, Taubstumme, Kinder mit Down-Syndrom, mit schweren motorischen Defiziten und irreversiblen Hirnschäden. Erschreckend viele Heranwachsende leiden an Mikrocephalie. Ihr verkleinertes und funktionsgestörtes Gehirn lässt auf eine extreme Vernachlässigung im Säuglingsalter schließen. Infolge von Mangelernährung und verseuchtem Trinkwasser ist die Zahl der behinderten Kinder in Ägypten ist sehr hoch. Über eine Million schätzen Statistiker. Nur jedes zwanzigste Kind hat eine Chance auf eine Förderung. Die meisten Behinderten landen auf der Straße oder werden von ihren Familien versteckt, aus Scham und aus Furcht vor Ausgrenzung und sozialer Ächtung. „Was ist denn mit dem los?“ Diesen Satz hört Fayek Louis immer wieder, wenn er mit seinem Sohn Martin auf die Straße geht. „Die Blicke der Leute sind schlimm“, sagt Fayek. „Aber schlimmer ist die Ignoranz. Kinder, die nicht normal sind, haben hier keinen Wert.“

Dem setzt Pater Antoun Kabes eine Alternative entgegen. Mit dem Heim der Muttergottes vom Frieden macht der katholisch-koptische Priester und promovierte Moraltheologe das Wohl behinderter Kinder aus mittellosen Familien zu seiner Lebensaufgabe. „Wohlhabenden Familien fällt es schwerer ein behindertes Kind zu akzeptieren als den Armen. Viele reiche Eltern zahlen und geben ihre Söhne oder Töchter in ein privates Heim. Die Ärmsten fügen sich eher ihrem Schicksal. Sie nehmen ihre Kinder an, nur sind sie nicht in der Lage ihnen auch nur den Hauch einer Entwicklungschance zu bieten.“

Um seine Heimidee zu verwirklichen, sprach Antoun Kabes Mitte der neunziger Jahre bei dem damaligen koptischen Patriarchen Stephanos vor und bat um ein Stück Land. „Stephan fragte mich, ob ich Geld habe. Ich bot ihm 2000 ägyptische Pfund an, lächerliche 400 Euro. Ein Witz. Stephanos schaute mich kopfschüttelnd an und fragte nur: Bist du verrückt? Ja, sagte ich, ich bin verrückt. Da hat er mir das Land geschenkt.“ Nicht vorauszusehen war: das Grundstück in dem Viertel Massaken Sheraton, einst eine öde Wüste unweit des Flughafens, hat sich zu einem angenehmen Wohnviertel im Westen Kairos entwickelt. Eine Oase der Ruhe im lauten und hektischen 17-Millionen-Moloch. „Am liebsten hätte ich in Kairo kleine, dezentrale Wohneinheiten für die Behinderten gegründet, so wie es die Arche-Bewegung praktiziert“, meint Antoun Kabes, „aber solche Kleinheime erfordern sehr viel qualifiziertes Personal. Das haben wir nicht.“

Unterstützung für sein Behindertenheim fand der rührige Pater in Deutschland, wo Antoun Kabes seit zwanzig Jahren als Pfarrer die Urlaubsvertretung seines Priesterkollegen im Oldenburgschen Bömmerstede übernimmt. „Ein Dorf, in den man in zehn Minuten von einem Ende zum anderen geht. Da ist Kairo schon etwas größer.“ Die Kleinbusse, die frühmorgens die Kinder zur Behindertenschule abholen, fahren pro Strecke 130 Kilometer. „Wir hätten unseren Sohn Martin auch in die öffentliche Behindertenschule in unserem Viertel geben können“, sagt Fayek Louis, „aber die Anstalt starrt vor Schmutz und die Kinder werden dort nur verwahrt, nicht gefördert.“

Acht Jahre ist es her, seit Fayeks Ehefrau Shadia nach zwei gesunden Jungen ihren dritten Sohn zur Welt brachte. „Im Hospital kam es zu Komplikationen“, erzählt Shadia. „Die Nabelschnur hatte sich um Martins Hals gewickelt. Er bekam zuwenig Sauerstoff und viele Gehirnzellen starben ab.“ Heute lebt der Junge mit seinen Eltern und Brüdern irgendwo im endlosen Häusermeer Kairos, in dem überbevölkerten Stadtteil Ainshams. Ein etwas marodes, aber quicklebendiges Viertel. Wo die KFZ-Klitsche neben der Teestube liegt, der Möbelschreiner neben dem Hammelmetzger, der Kleinkrämer Tür an Tür mit dem Fladenbäcker und dem Auspuffverkäufer, hat sich auch der 42-jährige Fayek seinen Arbeitsplatz geschaffen. In einer kleinen Werkstatt produziert er Papiermasken für Operationsärzte. „Es reicht für ein einfaches Leben“, sagt er zufrieden. In dem schlichten Wohnzimmer der Familie prangt ein überdimensionales Madonnenposter, und über die Mattscheibe eines uralten Schwarzweißfernsehers flimmert rund um die Uhr der „Aghapy channel“, der christlich-orthodoxe Messen überträgt. „Wir haben immer geglaubt und für Martin gebetet“, bekundet das Ehepaar. „Er konnte bis vor kurzem kaum laufen und kaum sprechen. Doch nun sind unsere Gebete erhört worden.“

Seit einem halben Jahr wird Martin jeden Morgen um sieben Uhr
abgeholt. Dann zwängen sich 25 Kinder im Fond dreier Kleinbusses, die sie zur Schule im Heim der Friedensmadonna bringen: die Autistin Dina, die in den Stunden im Schulheim nicht mehr tobt und schreit, sondern zur Ruhe findet;  Michael, in dessen bärenstarkem Körper der Verstand eines Kleinkindes schlummert; die pfiffige Angie, die bereits gelernt hat, blaue von gelben oder roten Dosen zu unterscheiden; Edward, der mit seiner Brille ein wenig an Harry Potter erinnert. Oder, Martina, die glücklich lächelt, wenn ihre Lehrerin Manal ihr mit bunten Malstiften die Hand über das Papier führt.

„Man darf das therapeutische Konzept hier im Heim nicht an deutschen Standards messen“, meint die freiwillige Helferin Annika, und ihre Kollegin Dorothee ergänzt: „Wir sind alle keine ausgebildeten Heilpädagogen, aber wir sind rund um die Uhr für die Kinder da. Und es ist ein wunderbares Gefühl zu sehen, wie sie sich entwickeln.“ So ist es denn auch weniger ein pädagogischer Stundenplan, der die Kinder aufblühen lässt, sondern Zuneigung, Nähe und menschliche Wärme. Die verschlossene Dina, deren Mauern noch vor wenigen Monaten unüberwindlich schienen und die kaum eine Berührung ertrug, freut sich heute ebenso auf das gemeinsame Frühstück mit den jungen Deutschen wie die blinde Cherry, die ihre Betreuerin Dorothee nur an ihren Händen und am Geruch erkennt. Auch die autoaggressiven Attacken, bei denen sich der Spastiker Andrew mit den Fäusten ins Gesicht schlägt und seinen Kopf auf den Tisch hämmert, werden seltener. In den Armen der 20-jährigen Abiturientin aus Osnabrück wird Andrew ganz still. Nur manchmal zuckt er ein wenig. „Dann spüre ich, dass er selig ist“, sagt Dorothee.

„Tegretol“, sagt Martins Mutter Shadia, „das war das einzigste, was uns die Ärzte für unseren Sohn gaben. Sonst hat sich keine Behörde für sein Schicksal interessiert.“ Doch das Medikament, dass gemeinhin gegen Epilepsie verordnet wird, half nicht. Martin dämmerte nur noch apathisch vor sich hin. Eigenmächtig setzten Shadia und Fayek Louis das Psychopharmaka ab und gaben Martin vormittags in die Obhut der Schule der Friedensmadonna. „Dann“, so Fayek, „geschah das Wunder. Martin lernte laufen und sprechen.“ Auch Martins Lehrerin Eva ist erstaunt über die rasante Entwicklung, die der Achtjährige in nur sechs Monaten durchlaufen hat. „Als Martin hierher kam, schlief er ständig. Heute ist er der aufgeweckteste Junge. Fröhlich und freundlich zu allen. Er kennt viele Tiernamen, weiß Farben, Obst- und Gemüsesorten zu unterscheiden und kann Dinge von eins bis zehn abzählen. Er geht sogar allein zur Toilette, wäscht sich selbständig und putzt sich die Zähne.“ Vater Fayek jedenfalls ist mächtig stolz auf seinen Sohn. „Früher konnte Martin nichts. Und heute? I will, ich will, sagt er. Er wird immer selbstbewusster. Damals hatte er nie Appetit. Jetzt isst er wie ein Scheunendrescher. Reis, ganze Berge von Reis muss meine Frau für ihn kochen. Ist das nicht herrlich! Was die manche Leute denken ist mir gleich. Martin ist unsere ganze Liebe.“