Zur Roma-Rassismus-Debatte

Wer ist schuld an ihrem Elend?

Erschienen in „Die Welt“ im März 2013

In den Wendejahren mochte man noch schmunzeln. Ob der Chuzpe, mit der Ion Cioaba sich 1992 eine güldene Krone schmieden und von den rumänischen Kalderasch-Zigeunern als König inthronisieren ließ. Als erstes Amtsgeschäft forderte der Monarch von der Bonner Bundesregierung zwanzig Tonnen Gold, wahlweise 3,5 Milliarden Mark. Als Akt der Wiedergutmachung für die Morde der Nationalsozialisten an seinem Volk. Andernfalls, so drohte Cioaba, werde er über eine Million seiner Untertanen als Asylanten nach Deutschland schicken. Soweit bekannt blieb der Geldtransfer aus. Ebenso wie der Massenexodus der Migranten, der womöglich nur vertagt wurde und längst keines königlichen Befehls mehr bedarf.

Dass Zigeuner aus Südosteuropa ihre Geburtsländer immer weniger als Heimat begreifen, sondern als Wartesaal für eine Reise von Peripherie in die Zentren der Europäischen Union, war seit 2010 nicht mehr zu übersehen. Dennoch fand die stete Einwanderung bulgarischer und rumänischer Tzigani in die Ruhrgebietsstädte Dortmund und Duisburg nur als lokales Phänomen Beachtung. Der Blick richtete sich nach Frankreich, wo Staatspräsident Nicolas Sarkozy Tausende rumänische Roma abschieben ließ. Der Philosoph André Glucksmann hatte damals leidenschaftlich für eine grenzenlose Freizügigkeit der europäischen Roma votiert und behauptet, allein in Rumänien würden „zwei Millionen europäischer Bürger auf gepackten Koffern sitzen und sich sagen, dass das Leben eines Bettlers in Frankreich weniger katastrophal ist als das eines ausgestoßenen Habenichts in Osteuropa“. Hierzulande verstand man Glucksmann eher metaphorisch. Rumänien war weit weg.

Bis zum Januar diesen Jahres, als ein alarmierendes Positionspapier des Deutschen Städtetages die Öffentlichkeit mit der Rat- und Tatenlosigkeit der bundesdeutschen Migrationspolitik konfrontierte. „Die Zuwanderung von bulgarischen und rumänischen Staatsangehörigen ohne Sprachkenntnisse, soziale Absicherung und berufliche Perspektive“, so heißt es, „hat erhebliche Auswirkungen auf das kommunale Bildungs-, Sozial- und Gesundheitssystem, den Arbeits- und den Wohnungsmarkt, aber auch das Gemeinwesen insgesamt … Der Bund muss anerkennen, dass die soziale Balance und der soziale Friede in den Städten in höchstem Maße gefährdet sind.“

Ist Deutschland mit den Armutseinwanderern überfordert? Zur Beantwortung dieser Frage hatte Sandra Maischberger im Februar auch den Roma-Aktivisten Hamze Bytyci in ihre Talkshow eingeladen. Obwohl der 26-Jährige mit der Aggressivität irritierte, mit der er das Recht seiner Ethnie auf einen ungehemmten Zuzug in die Bundesrepublik einklagte, so traf er doch den herrschenden Common Sense. Ein Dutzend Mal insistierte der gebürtige Kosovare darauf, die europäischen Roma hätten ein Anrecht auf Leben und Arbeit in Deutschland, weil sie in ihren Herkunftsländern „mehrfach massiv diskriminiert“ würden. Unstrittig ist: In den ehemals sozialistischen Staaten, ob in Tschechien, der Slowakei, in Ungarn, Rumänien oder Bulgarien, ist Integration großer Teile der Zigeuner gescheitert. Und sie wird weiterhin scheitern. Solange die Ursachen der Ausgrenzung der Zigeuner aus dem Gesundheitswesen, dem Bildungssystem und der Arbeitswelt prinzipiell immer nur im Rassismus der Mehrheitsbevölkerung gesucht und gefunden werden.

Vor einigen Jahren besuchte ich slowakische Roma-Siedlungen am Fuß der Hohen Tatra. In einer Kolonie oberhalb des Dorfes Stráne pod Tatrami sagte der Woiwode Ernest Badzora: „Wir würden auch gern so leben wie die Slowaken, aber wir werden ausgeschlossen. Nicht einmal der Bus fährt noch in unser Viertel.“ Nein, nein, erklärten die Leute im Dorf, der Busfahrer weigere sich, in die Kolonie zu fahren, seit er bedroht und bestohlen wurde. „Die Weißen wollen uns nicht unten in ihrem Dorf haben“, argwöhnte Badzora. „Deshalb haben sie die Miete für Familienfeiern in dem öffentlichen Gemeindesaal auf 6000 Kronen erhöht. Soviel können wir nicht bezahlen.“ Nein, nein, meinte der slowakische Bürgermeister Pitonák. „Die Hälfte des Geldes ist eine Kaution. Die gibt es zurück, wenn alles heil geblieben ist. Denn beim letzten Mal haben die Roma Fenster, Stühle und Tische demoliert und die Glühbirnen gestohlen.“

In Rumänien wird im Flusstal der Kleinen Kokel seit einiger Zeit wieder Wein angebaut. In einer aufstrebenden Kellerei haben über 1.500 Arbeiter eine Anstellung gefunden. Auch Roma hätten Jobs im Weinbau finden können, erklärte Mailat Cornel, der Vertreter der ziganen Minderheit im Rat der Gemeinde von Cetatea de Balta. Nur: „Achtzig Prozent der Männer leben gar nicht hier. Sie arbeiten und betteln in Frankreich.“ Die meisten von ihnen hatten Cetatea nicht um eines persönlichen Reichtums willen verlassen, sondern um den Wohlstand von vier ortsberüchtigten Kredithaien und Schlepperbossen zu mehren.

In Ungarn distanzierte sich der Wirtschaftsberater István Forgács in einem viel diskutierten Manifest unlängst von seinem Volk. Nicht um sich loszusagen. Der Absolvent der Hochschule für Verwaltung in Budapest will seine Leute wachrütteln: „Die Nichtzigeuner verfügen über all die Ressourcen, auf die wir selbst auch angewiesen sind. Aber wir kommen nicht daran, weil unser Vater oft genug die Sozialhilfe versäuft. Oder der Zinswucherer unsere Mutter verprügelt. Oder unsere große Schwester wegen der Schulden nach Holland verschleppt wird.“

Ähnlich äußerte sich auch Attila Lakatos, eine Autorität unter den Zigeunern im Nordosten Ungarns. Immer wieder hat der Woiwode die Eingliederung der Roma in die Bildungs- und Arbeitsprozesse angemahnt. Zugleich aber hatte er anlässlich der ungarischen Parlamentswahlen 2010 in einer machtvollen Ansprache sein Volk aufgefordert, endlich die Ursachen des Dauerelends nicht bei der ungarischen Mehrheit zu suchen, sondern bei sich selbst. Lakatos wetterte gegen die Unsitte, jeden als Rassisten zu beschimpfen, der einem nicht passe: Lehrer, die einem Zigeunerkind einen Tadel gaben; Ärzte, die einen Rom nicht vom Krebs heilen konnten; Polizisten, die Roma das Auto stilllegten, weil sie ohne Versicherungsschutz fuhren. „Rassistische Lehrer! Rassistische Ärzte! Rassistische Polizisten! Was soll das! Sind denn alle in diesem Land Rassisten?“

„Sie sind ein Rassist!“ Der Vorwurf traf den Redakteur der Schweizer „Weltwoche“ Philipp Gut letzten November. Angegriffen hatte ihn Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma während einer Diskussion, wiederum bei Maischberger. Roses Unmut über den Züricher Journalisten schien begründet. Mit der Titelgeschichte „Die Roma kommen – Raubzüge in die Schweiz „  hatte die „Weltwoche“ über kriminelle Familienclans aus dem Balkan berichtet und einen Tsunami der Entrüstung ausgelöst. Stein des Anstoßes waren nicht die recherchierten Fakten, sondern das Titelbild: ein Romajunge, der mit einer Spielzeugpistole auf den Betrachter zielte. Nur hatte das Foto nichts mit Roma-Banden in der Schweiz zu tun. Ein Agenturfotograf hatte es Jahre zuvor im Kosovo aufgenommen.

Die Redaktion der „Weltwoche“ hätte gut daran getan, den Missgriff zu bedauern. Eine Entschuldigung aber blieb aus, und Romani Rose steigerte den Rassismusvorwurf ins Maßlose. „Und wissen Sie, was Sie noch viel schlimmer sind? Sie sind jemand, der Kinder missbraucht.“ Vier, fünf Mal wiederholte Rose den wohl schwersten Vorwurf, mit dem man einen Mann diffamieren kann. „Sie haben ein Kind missbraucht!“ Das war perfide. Philip Gut hatte kein Kind missbraucht. Die „Weltwoche“ hatte eine Fotografie missbräuchlich verwendet.

Mit ihren stereotypen Rassismusvorwürfen haben die Roma-Politiker über Jahrzehnte alle Debatten dominiert, ohne dass sich die Situation der Zigeuner merklich gebessert hätte. Sie verschweigen, dass die Roma weniger von der Dominanzbevölkerung ausgebeutet werden als von den Angehörigen der eigenen Ethnie. Die Roma selber leiden am meisten unter Kindesmissbrauch, Frauenhandel und Zuhälterei, unter Kreditwucher, Erpressung und Bandendiebstahl. Aber die Funktionäre schweigen, wenn bulgarische Zuwanderer Hunderte junger Frauen in die Bordelle schicken und skrupellose Verbrecher in Hinterhöfen europäischer Metropolen verwahrlosten Kindern das Bettelgeld abknöpfen. Für die Funktionäre haben die Roma immer nur eines zu sein: Opfer mit allen Rechten, ohne einklagbare Pflichten.

Das wird sich ändern. Das Positionspapier des Deutschen Städtetages markiert einen Meilenstein, der die „Gelingensbedingungen von Integration“ und die Gefährdung des sozialen Friedens ernst nimmt. Die Integration der Roma wird Geld kosten. Sehr viel Geld. Das hochverschuldete Duisburg hat allein für die Unterbringung der Zuwanderer vom Balkan für 2014 knappe 20 Millionen Euro veranschlagt.

Doch bei all dem Streit, wer die Zeche für den überhasteten Beitritt Rumäniens und Bulgariens in die EU zu zahlen hat, ob Städte, Bund oder Brüssel, es gibt etwas, dass sich mit Geld nicht kaufen lässt. Das hat der Aktivist Hamze Bytyci nicht begriffen. Solidarität und Mitgefühl lassen sich nicht einklagen. Sie werden gewährt. Mit der Selbstverständlichkeit, mit der Bytyci dem Gemeinwohl im „reichen Deutschland“ die Kosten zur Lösung der sozialen Katastrophe der Roma aufbürdet, verspielt er die Sympathien jener Menschen, die künftig mit den Roma zusammenleben müssen. Integration erfordert Akzeptanz, einen wohlwollenden Blick und die Bereitschaft, Brücken zu bauen. Ohne die Einbindung und das Einverständnis der Bürger, deren Viertel von der unkontrollierten Zuwanderung betroffen sind, wird sozialer Friede nicht zu haben sein. Wer Menschen in den multikulturellen Brennpunkten in Duisburg, Dortmund, Mannheim oder Berlin fremdenfeindliche Gesinnung unterstellt, hat diesen Frieden schon im Vorfeld verspielt.