Interview: Basler Zeitung

Interview anlässlich der literarischen „Baseler Buchwoche“ im Oktober 2013

BaZ: Herr Bauerdick, Sie haben 100 Reisen zu den Roma in zwölf europäische Länder unternommen. Wie würden Sie die Roma beschreiben?
Rolf Bauerdick: Als anpassungsfähig. Humorvoll. Und entwurzelt.

Können Sie das ausführen?
Die Anpassungsfähigkeit ist eine Überlebensstrategie, wenn man ausgeschlossen und diskriminiert in einer Mehrheitsgesellschaft am Rande lebt. Bei «humorvoll» denke ich an eine gewisse Leichtigkeit des Lebens: Da wo wir uns über kleine Dinge den Kopf zerbrechen, nehmen sie es unbeschwerter; ihre Mentalität ist eher im Hier und Jetzt verwurzelt als in einer geplanten Zukunft. Die Ausgrenzung allerdings hat Prozesse ausgelöst, bei denen die Roma ihre lebendigen Traditionen und Fähigkeiten verloren haben – deshalb «entwurzelt

Sie nennen Ihr Buch kurz und knapp «Zigeuner». Ist der Terminus Zigeuner nicht diffamierend?
Ja, es gibt eine Tradition, in der diffamierend von Zigeunern gesprochen wird. Das ist ein übles Erbe des deutschen Nationalsozialismus. Die selbstbewussten Zigeuner, die ich kenne, sagen jedoch: Warum sollen wir den Nazis den Sieg über diesen Namen überlassen? Es sind die Funktionäre und Menschenrechtler, die sich darüber aufregen. Die Kritik kommt am wenigsten von den Zigeunern selber.

Die NZZ schrieb kürzlich, dass, wer sich in Deutschland korrekt ausdrücken wolle, den Doppelbegriff «Sinti und Roma» verwende. Obwohl der Begriff entwicklungsgeschichtlich wenig sinnvoll sei, weil es sich bei den Sinti um eine Untergruppe der Roma handle.
Oh, das müssten Sie mal den Sinti sagen! Sie wollen keine Untergruppe der Roma sein. Die Sinti im deutschsprachigen Raum sind sehr traditionsbewusst und legen größten Wert darauf, ein eigenständiges Volk zu sein. Es ist ein ernstes Problem, dass stets von «Sinti und Roma» die Rede ist, oft in Zusammenhang mit Diebstahl, mit Prostitution, mit Menschenhandel, mit Bettelei… In Deutschland ist die Doppelbezeichnung notorisch, obwohl die Sinti weder betteln noch ihre Frauen zur Prostitution zwingen oder kriminell sind. 

Der Untertitel Ihres Buches, «Begegnungen mit einem ungeliebten Volk», suggeriert, dass die Roma nicht unbedingt einen guten Ruf genießen. Wie ist es dazu gekommen?
Das ist eine schwierige Frage. Einerseits sind sie Fremde gewesen, wo immer sie aufgetaucht sind, und sind als Fremde ausgegrenzt worden. Andererseits haben viele es aufgegeben, Anstrengungen zu unternehmen, aus dieser Fremde herauszukommen. Es gibt Menschen aus anderen Kulturen, Asiaten oder Afrikaner, die überhaupt keine Schwierigkeiten haben, sich zu integrieren. Ich halte es für falsch, für den Mangel an integrativer Kraft nicht auch die Roma, sondern allein immer nur eine fremdenfeindliche Dominanzgesellschaft anzuklagen.

Wie meinen Sie das?
Für mich ist entscheidend, dass die Roma durch die jahrhundertelange Ausgrenzung ihrerseits Verhaltensweisen hervorgebracht hat, die eine Diskriminierung fördern statt sie abzubauen. Wie etwa der Straßenstrich in Dortmund, der vor zwei Jahren gesperrt wurde, weil er von Romafrauen aus Bulgarien überschwemmt wurde. Im Ersten Programm (ARD-Fernsehen) in der Sendung «hartaberfair» sagte diesen Montag der Sprecher der Polizeigewerkschaft, dass in Dortmund und Duisburg die Kriminalitätsrate mit dem Zuzug der Roma dramatisch angestiegen sei. Das ist der Integration nicht förderlich.

 In Ihrem Buch gehen Sie auch auf den als rassistisch geltenden Begriff «Zigeunerkriminalität» ein.
Dieser Begriff wird in Ungarn stark diskutiert. Ich habe dort einen hochrangigen Justizbeamten interviewt, der dafür plädierte, das Wort abzuschaffen. Aber er sagte auch, das Phänomen, dass bestimmte Delikte bei den Roma gehäuft auftreten würden, verschwinde damit nicht. Zum Beispiel diese ausufernden Kleindiebstähle, die neben den Ungarn auch redliche Roma beklagen und die das Leben in den Dörfern fast unerträglich machen. Daran sind jedoch nicht alleine die Roma schuld. Das ist auch die Folge eines sozialliberalen Staatverständnisses, dessen Justiz nicht durchgreift und Unrecht  duldet. 

Die Roma im postkommunistischen Europa leben oft am Rande der Städte und Dörfer, in schlechten hygienischen Verhältnissen und sozusagen von der Hand in den Mund. Wieso war die Wende für sie so nachteilig?
Es gab und gibt nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in der Wirtschaft schlichtweg nicht genügend Arbeit. Der sozialistische Arbeitsmarkt war so aufgebläht, dass eine große Zahl unproduktiver Arbeitsplätze freigesetzt wurde. Und da setzte man halt jene als erstes jene frei, die am schlechtesten ausgebildet waren.

Dann ist die mangelnde Bildung auch einer der Hauptgründe, warum die Roma so schlecht integriert sind?
Genau.

Was könnte man dagegen tun?
In Ländern wie Ungarn, Bulgarien und Rumänien ist die staatliche Fürsorge mangelhaft. Die Kontrolle der Einhaltung der Schulpflicht ist eine Katastrophe. Wenn die Roma ihre Kinder nicht zum Unterricht schicken, interessiert das die Gesellschaft wenig. Zum anderen fürchten die Männer in vielen Roma-Familien, dass gebildete Kinder Autorität untergraben. Man muss sich das so vorstellen: Die Autorität eines Familienvaters gründet darauf, dass er in seiner Familie Arbeit und Brot garantiert. Wenn er arbeitslos ist, erlebt er die eigenen Kinder mit Schulausbildung für sich als beschämend, oft sogar als Bedrohung. Zudem sieht ein Analphabet oft nicht ein, dass ein Schulabschluss von Nutzen sein kann.

Also müsste man die Fürsorge verbessern und die patriarchalische Gesellschaftsordnung umkrempeln?
Ja, aber das letztere kann man natürlich nicht mit Gewalt tun. Da sind Prozesse vonnöten, die wohl über Generationen ablaufen. Nur: Dort, wo man allein auf Einsicht setzte und auf Sanktionen verzichtete, sind soziale Fortschritte am wenigsten erkennbar.

Sie besuchen nun seit 20 Jahren die Roma – stellen Sie diesbezüglich bereits Verbesserungen fest?
Partiell. Nur dort, wo die Roma eng mit Nicht-Zigeunern zusammenarbeiten. Dort, wo sie sich integrieren lassen und auf eine Kultur treffen, die den Integrationswilligen Hilfen bereitstellt. In Deutschland wurde vor zwei Jahren von Funktionären eine Bildungsstudie veröffentlicht, wonach 85 Prozent der befragten Sinti keinen Berufsabschluss haben. Die Ursache dieses Problems wurde allein im ausgrenzenden Verhalten der Mehrheit gefunden. Die Verbandsführer der Roma haben ein Interesse daran, ständig auf ihre Dauerdiskriminierung hinzuweisen, anstatt die Leute in die Schule zu schicken. 

Die Interessensverbände setzen also Ihrer Meinung nach die Schwerpunkte falsch?
Sie leben seit 30 Jahren davon, dass sie ihre eigenen Leute zu Opfern erklären. Nicht einer hat je an ihre Eigenverantwortung appelliert. Sie setzen sich nicht dafür ein, dass die Roma ihre Stärken hervorkehren. Das unterscheidet mich von den akademischen Antiziganismusforschern. Sie reden den Roma ein, es sei ihr gutes Recht wegen eines Begriffs wie «Zigeunerschnitzel» beleidigt sein zu dürfen. Ich würde den Roma eher raten, ihr Selbstbewusstsein zu stärken.

Aber wie sollen sie das tun, wenn sie keine Arbeit finden und in Armut leben?
Günter Grass, den ich als Literat ansonsten schätze, hat über die Roma ein Buch geschrieben, mit dem Titel «Ohne Stimme». Aber die Roma sind kein Volk ohne Stimme. Das ist dummes Zeug. Für die Roma meinen die Intellektuellen, immer und überall sprechen zu müssen. Während man jedem anderen Volk der Welt, egal ob Juden oder Türken, selbstverständlich zugesteht, für sich selber sprechen zu können. Nur die Roma werden so degradiert, als hätten sie keine eigene Stimme.

 Und warum, denken Sie, ist das so?
Ich weiß es nicht. Vielleicht treibt die Intellektuellen der Instinkt der Fürsorge an. Einer imaginären Sorge jedoch. Die reale und verschleißende Arbeit in den Armutsquartieren jedenfalls überlassen sie lieber anderen.

Wie würden Sie die Mentalität der Roma umreißen?
Ihre Herzlichkeit und Offenheit haben meine Erfahrungen geprägt. In meinen Begegnungen erschienen sie mir nie als gehässig, oder niederträchtig gar. Ich habe nicht einmal erlebt, dass mir die Roma die Tür verweigert hätten. Auf Freundlichkeit regieren sie freundlich.

Wie steht es um den Aberglauben? Der nimmt im Buch ein ganzes Kapitel ein.
Restbestände eines magischen Weltbildes nicht überall gleich stark vorhanden. In Rumänien ist der Glaube an schwarzmagische Kräfte ein echtes Problem, in Ungarn oder Tschechien weitaus weniger. Anders als die gläubigen Sinti in Deutschland würden rumänische Tzigani kaum zu einer Madonnenwallfahrt pilgern, sondern bei Alltagsschwierigkeiten eher eine Wahrsagerin aufsuchen.

In Liedern und Geschichten wird das Leben der Roma oft romantisiert. Hat dieses Bild für Sie auch etwas Wahres?
Ja, natürlich! Es wird ja heute behauptet, als ob diese romantisierende Sehnsucht den Zigeunern schade. «Zigeunerjunge, Zigeunerjunge, wo bist du geblieben», dieses wunderbare Lied von Alexandra, soll allen Ernstes rassistisch sein. Das diagnostizieren freilich solche Leute, die nie eine längere Zeit unter Zigeunern verbracht haben. Diese Heile-Welt-Bilder von Pferdekutschen, vom Unterwegssein, von Zeltlagern, die Träume davon, nicht in einer Mietskaserne zu leben, sondern unter freiem Himmel, sind bei vielen Roma in Osteuropa immer noch sehr stark.

 Wie offenbart sich das? Sie erzählen oft davon, dass sie mit dem Leben, das sie jetzt führen, nicht glücklich sind. Vor allem jene, die in Armut leben.

 Was macht für Sie die Kultur der Roma aus? Oder gibt es diese gar nicht?
Es ist schwierig, von einer einheitlichen Kultur zu sprechen. Man muss aufpassen, dass man nicht in einem Klischee landet. Aber Lehrer in Kindergärten und Schulen bestätigen den Kindern häufig ein hohes Maß an Musikalität. Es ist sicher kein Zufall, dass die Roma-Blaskapellen aus dem Balkan in Westeuropa die Konzertsäle zum Kochen bringen. Ihre Vitalität und Lebensfreude berührt einen eben unmittelbar.

Welches war Ihr schockierendstes Erlebnis auf Ihren Reisen?
Das Anbot einer rumänischen Romni, die mir zwei Mädchen für sexuelle Dienste anbot. In diesem Moment wurde mir klar, dass es gibt nicht nur eine Furcht vor den Zigeunern gibt, es gibt auch eine Furcht um sie.

Was hat Sie am meisten beeindruckt?
Ein Ort in Rumänien, Blaj, wo ich regelmäßig hinfahre. Erst letzte Woche noch war ich dort. Es ist einfach wunderbar, dass dort die Frage, ob einer Deutscher ist oder Rumäne, Westfale, Zigeuner oder was weiß ich,  einfach keine Rolle spielt.

Was haben Sie Ihre Reisen gelehrt?
Manchmal komme ich zurück bin sehr erschöpft. Ich sehe viele Dinge, die sich nicht zum Guten gewendet, die sich sogar verschlimmert haben. In solchen Momenten denke ich, ich habe gar nichts gelernt. Aber manchmal kehre ich auch zurück und denke, es ist beglückend, Menschen zu kennen, die nicht von unserer unterkühlten Beziehungslosigkeit infiziert sind. Die nicht so politisch korrekt sind wie wir. Die nicht jedes Wort dreimal abwägen und umdrehen, bevor sie es aussprechen. Die einfach nur leben.