Ägypten: Die Zabbaleen vom Palmenviertel

Müllsortieren_Kairo

„Don´t worry,
be happy“

„Mein Herr, sind die Speisen nicht in Ordnung“, fragt der Kellner irritiert, als er das Besteck und die unberührten Teller abräumt. „Sick stomach“, sage ich entschuldigend und deute verlegen auf meinen Magen. Trotz Hunger will einfach kein Bissen herunter. Doch es sind nicht die köstlichen Gerichte, die mir in einem Lokal in Kairos nächtlicher Altstadt den Appetit verderben. Gewiss duften der Reis und das Fladenbrot himmlisch. Und sicher ist das Püree aus Kichererbsen genauso vorzüglich wie das Lamm-Kebab vom Grill. Wären da nicht diese Bilder in meinem Kopf, apokalyptische Szenen aus Ezbet el-Nakhl. Wäre da nicht dieser Gestank. Er steckt in der Kleidung, klebt auf der Haut, kriecht in die Nase, setzt sich dort fest. Ein ekliger Dunst aus verrottetem Gemüse und Tierkadavern, kokelndem Abfall, Fäkalienbrühe und Schweinekot. Heute, in der brütenden Hitze eines windstillen Sommertags, waren die Ausdünstungen in dem Müllviertel besonders übel. Ich höre noch immer das nervtötende Gesummse schwarzer Fliegenschwärme, sehe räudige Köter an nackten Knochen zerren; sehe tote Ratten im Staub, von Würmern zerfressen; sehe schwitzende Leiber unter der Last von riesigen Müllsäcken, stillende Mütter in beißendem Qualm, spielende Kinder, lachend und tobend in einem Inferno aus Verwesung und Dreck. Nach einigen Tagen unter den Zabbaleen, den Müllsammlern in Kairo, klafft ein Abgrund auf. Ein Graben, unendlich tief und schier unüberwindbar. Zwischen jemandem, der sich den Luxus leistet, ein komplettes Menü zurückgehen zu lassen, und Nasr, dem schmutzigen Fünfjährigen, der im Unrat kauert und an seinem Daumen gegen das Elend anlutscht, während Doktor Adel Ghali den unglaublichen Satz sagt: „Don´t worry, be happy.” Unbegreiflich! Auch Nasr Vater Mina Salib meint: „Wir haben keinen Grund zur Klage.“ Salibs Eselskarren ächzt und schwankt bedrohlich, als er sich in der Mittagsglut den Weg durch das Gassengewirr von Ezbet el-Nakhl bahnt. Auf der überladenen Fuhre türmen sich Pappkartons, Plastikfetzen und zerfledderte Zeitungen. Dazwischen verdorbene Essensreste, Restaurant- und Haushaltsabfälle aus den besseren Stadtteilen Kairos. Vergorene Relikte aus der Ersten Welt, Lebenselixier für die Dritte. Sofort stürzen sich Nasrs ältere Geschwister Remon und Diviana in den Matsch. Bis zu den Knien stehen sie in der fauligen Pampe und fischen mit bloßen Händen alles Fressbare hervor. Für die Schweine, die wohlgemästet im Schlamm der Hinterhöfe grunzen. „Dass es schlecht riecht“, sagt Diviana, „das stört mich nicht.“ Und die vielen Fliegen? „Nein, die auch nicht. Nur die Hände, die jucken immer.“ Aber möchtet ihr nicht wie andere Kinder zur Schule gehen? Lesen und Schreiben lernen anstatt Müll zu sortieren? Remon überlegt. „Ja schon“, sagt der Zehnjährige zögerlich, als sich sein Vater einmischt. „Bald, schon bald werde ich alle meine Kinder zur Schule schicken.“ Mina Salib lächelt. Er hat sein Gesicht gewahrt. Er weiß, die Antwort wird mir, dem fremden Europäer, gefallen. Ein Dutzend U-Bahnstationen, knapp zwanzig Kilometer, liegen zwischen Kairos Downtown und Ezbet el-Nakhl, der „Palmenplantage“, ein Name, der vor ewigen Zeiten einmal treffend gewesen sein mag. Doch vom Turm der orthodoxen Sankt Georg-Kirche erspähe ich nur die nackten Fassaden mehrstöckiger Ziegelhäuser vor einem Labyrinth aus rostigen Blechhütten, staubgrauen Pappdächern und Schweinekoben. Hier wächst kein Grün. Und hier kann kein Grün wachsen. Das Grundwasser ist derartig mit Keimen verseucht, dass die Zabbaleen ihr Frischwasser aus Tankwagen zapfen müssen. Palmen gedeihen in den Clubanlagen der reichen Ägypter auf der Nilinsel Samalek oder in den bewässerten Gärten der Touristenhotels, wo eine Übernachtung locker das Jahreseinkommen eines Mina Salib verschlingt. Von den schäbigen Preisen, die die Aufkäufer für Papier, Kunststoff, Glas oder Metall zahlen, sehen die Zabbaleen nicht viel. Sie sind die kleinsten Rädchen in einem gigantischen Getriebe, dem einträglichen Geschäft der Müllverwertung. Fakt ist: ohne die Zabbaleen würde der 17-Millionen-Moloch Kairo in seinem eigenen Dreck ersticken. Von den ungezählten Tonnen Müll, die seine Bewohner täglich ausspucken, werden 85 Prozent wiederverwertet. Organische Abfälle werden verfüttert. Recycling heißt das. Ein keimfreier Begriff, der die Wirklichkeit der Abfallsammler und Müllsortierer schönt. Kairo versagt der Drecksarbeit nicht nur einen anständigen Lohn, sondern auch jede Anerkennung. In ihren Ghettos bleiben die Zabbaleen weitgehend unter sich. Erkennbar an ihren Zeichen. Wie die alte Luisa hat sich auch ihre Enkelin Marianne ein kleines Kreuz auf das Handgelenk tätowieren lassen. „Letztes Jahr an Maria Himmelfahrt“, erklärt das Mädchen. „So sieht jeder, dass ich mich zum Glauben bekenne.“ Rund neunzig Prozent der Zabbaleen sind orthodoxe Christen, Kopten, die oft schon vor Generationen aus den trockenen Wüsten Oberägyptens abwanderten, bitterarme Landarbeiter, Analphabeten, ohne Beruf, ohne handwerkliche Traditionen. Kairo war ihr verheißenes Land, der Müll ihre Rettung. Der Müll und die Schweine garantieren das Überleben. Nur, Schweine werden in der islamischen Welt verachtet. Die Allesfresser gelten den Muslimen als unrein. Und das färbt ab, auf jene, die Schweine züchten und essen. „Mir ist das egal“, meint Markin Boulus. „Die einen sind gläubige Muslime, wir sind gläubige Christen. Wenn du arm bist, spielt das keine Rolle.“ 25 Jahre ist es her, das Boulus mit Frau und fünf Kindern aus der Wüste nach Mansheya zog, Kairos größtem Zabbaleen-Viertel. 60.000, vielleicht auch 80.000 Menschen leben hier. In unmittelbarer Nähe zu einem der grandiosesten Bauwerke des Orients, der Zitadelle des Sultans Salahuddin mit der Mohammed-Ali-Moschee drängt sich der Eindruck auf, als offenbare Al-Qahira, „die Siegreiche“, in Mansheya ihre dunkle, ihre hässlichste Seite. Umso schwerer fällt mir, den Worten Markin Boulus zu glauben. Unter dem milden Blick des bärtigen Heilands, der von einem Plakat auf eine unsägliche Stätte der Verwahrlosung hinabschaut, behauptet der Alte: „Das Leben ist gut in Mansheya.“ Im Ernst? Ist es gut, wenn zehn Kinder zwischen Müllbergen mit Ziegen, Schweinen und Ratten aufwachsen, die nicht einmal mehr weghuschen? Kann ein Ort gut sein, an dem zwei Söhne an Hepatitis starben, weil sie sich mit toxischem Dreck die Leber vergifteten? Wo sich Enkeltochter Christina mit ihren vier Schwestern ein schmieriges Bett teilt? „Wir haben es nie bereut, nach Kairo zu gehen. Der Müll gibt uns Arbeit“, sagt Markin. „In Assud haben wir gehungert. Hier nicht.“ „Don´t worry, be happy. Sieh nicht nur das Elend. Sieh das Gute.” Nicht ein Mal habe ich diesen Spruch gehört. Doktor Adel Abd El Malek Ghali führt derlei Sätze ständig im Mund. Und das Wunderbare ist, er lebt sie auch. Seit dreißig Jahren praktiziert der quirlige Ägypter in Ezbet el-Nakhl, als Arzt und als Menschenfreund. Adel ist ein Phänomen, bekannt wie ein bunter Hund, ein Orientale durch und durch, umwerfend herzlich, verschmitzt und niemals pünktlich. Zu Verabredungen erscheint er regelmäßig um Stunden zu spät. „Ich darf die Leute doch nicht ohne ein Wort einfach stehen lassen“, sagt er entschuldigend für seine Art, an jeder Ecke mit jeder und jedem ein Schwätzchen zu halten. Doch für die Zeit des Wartens entschädigt seine Begleitung. Und sein wohlwollender Blick. Während ich die Nase rümpfe, weil ein halber Schweinekopf zum Himmel stinkt, singt Doktor Adel auf Deutsch: „Freu dich, freu dich, Jesus ist da.“ Wirklich? Hier in diesem Vorhof zur Hölle? „Ja, wo denn sonst“, lacht der glaubensstarke Kopte und klopft mir auf die Schultern. „Mach dir keine Sorgen. Sei froh. Und glaub mir, früher war alles viel schlimmer.“ In den achtziger Jahren, erzählt Adel, starben in Ezbet el-Nakhl vier von zehn Kindern kurz nach ihrer Geburt. Der Grund: Tetanusinfektionen. „Die Frauen gebaren ihre Kinder auf dem nackten Boden. Matronen halfen ihnen dabei und durchtrennten die Nabelschnur mit Glasscherben oder scharfkantigen Blechen. Zwei, drei Wochen später erkrankten die Säuglinge an Wundstarrkrampf, einen Monat später waren sie im Himmel.“ Doktor Adel setzte ein Impfprogramm durch. Zuerst für die schwangeren Frauen, dann für die Kinder. „Die liefen alle barfuss im Müll, zogen sich Schnittwunden zu und infizierten sich.“ Und heute? Immerhin haben es 20.000 Zabbaleen aus Ezbet el-Nakhl geschafft in Ziegelhäusern zu wohnen. In den engen Räumen drängen sich ganze Familien, ein Fortschritt, denn sie leben zwar vom, aber nicht mehr im Müll. Werdende Mütter suchen die örtliche Geburtsstation auf, Kranke werden im Hospital behandelt. Aber gesund ist in der Palmenplantage niemand. Wenn der 60-Jährige Adel mit seinen Plastiktüten prall voller Medikamente durch die Müllgassen spaziert, hängen die Menschen wie Kletten an ihm. Mütter, deren Säuglinge an Durchfall und Austrocknung leiden, Leberkranke mit gelbfahler Haut, Männer mit offenen Beinen, mit schwärenden Wunden, die einfach nicht heilen wollen. Shereen, die kleine Müllsortiererin, die ständig hustet, erhält ihren Bronchialsaft, Sami bekommt Antibiotika gegen seine Geschwüre und die alte Shawkeya Salbe zur Linderung der Schmerzen ihrer arthritischen Gelenke. Und überall Kinder, die in der Nähe von Doktor Adel nichts anderes suchen als einen kleinen Spaß, ein freundliches Wort. Jungen wie Malak. Stumm und verwahrlost irrt er durch den Schmutz, seit er von einem daherjagenden Eselkarren erwischt wurde. Eine überstehende Eisenstange durchstieß seinen Hals, auf dem sich eine dicke Beule bläht. Oder Ashraf. Wenn man ihn beim Wühlen im Abfall anspricht, schaut er kurz auf, stiert ins Leere und wühlt weiter. „Er spricht nicht“, erklärt sein Vater und tippt sich gegen die Schläfen. „Etwas stimmt nicht in seinem Kopf.“ Oder Shereen, die Siebenjährige mit dem chronischen Husten, flink wie ein Wiesel. Flaschen in die rechte Tonne. Ölkanister links. Dahinter die Säcke für die Blechdosen und das Stanniolpapier. Ihre Kindheit liegt bereits hinter ihr, dabei könnte sie beginnen. Ein paar Straßenzüge weiter, in der Schule. „Förderung von Ausbildung und Wohlergehen armer und vernachlässigter Kinder ohne Rücksicht auf Religion, Kultur oder ethnische Zugehörigkeit.“ Das liest sich trocken. Auf dem Projektpapier. Luciano Verdoscia jedoch erfüllt dieses Ziel mit Leben. Mit ihm treffe ich einen Europäer, dem es in seiner Arbeit gelingt den Graben zwischen der Ersten und Dritten Welt zu überwinden. Dabei hätte der Priester und Pater des Comboni-Ordens durchaus die angenehmere Variante wählen können, anstatt sich auf die Seite der Zabbaleen zu stellen. Als Universitätsprofessor lehrte er in Italien, ging vor 15 Jahren nach Kairo, wo er am Pontificalinstitut Islamische Theologie unterrichtete und bis 2006 für den Christlich-Islamischen Dialog zuständig war. Sonntags fuhr er raus zu den Schwestern der Mutter Theresa und las die heilige Messe. Mitten in Mansheya. Er sah das Elend der Müllstadt und wusste was zu tun war. „Die Kinder waren meine Herausforderung.“ „Das öffentliche Schulsystem nimmt auf die soziale Herkunft der Kinder wenig Rücksicht“, sagt der 51-Jährige. „Die Ungebildeten bleiben ungebildet, die Ärmsten bleiben arm. Viele Zabbaleen schicken ihre Söhne und Töchter trotz staatlicher Schulpflicht nicht zum Unterricht. Wenn doch, dann scheitern die meisten. „Weil sie im Müll nie gelernt haben zu lernen. Daher suchten wir junge, begeisterungsfähige Lehrer, Muslime und Christen, um die Müllkinder zu fördern.“ Im Palmenviertel mietete Luciano Verdoscia ein heruntergekommenes Spital ohne Licht und Strom an, das peu a peu mit Hilfe der Bewohner renoviert wird. Einige Räume dienen als Klassenzimmer. Zuerst kamen 16 Jungen und Mädchen, dann 100, dann 170, heute kommen zu den Schulprojekten in Mansheya und Ezbet el-Nakhl 600 Schüler. Zwischendurch kam auch die ägyptische Staatspolizei. Man hatte den Professor angeschwärzt. Die Anklage lautete: christliche Missionierung. Ein Vorwurf, ebenso ernst wie absurd. Luciano Verdoscia konnte ihn entkräften. „Ich will niemanden missionieren“, sagt er. „Aber hier ist alles getrennt. Arme und Reiche, Verhüllte und Unverhüllte, Muslime und Christen, Katholiken und Orthodoxe. Wir brauchen ein Klima des Vertrauens, der Toleranz und des gegenseitigen Respekt. Wir müssen die Gräben überwinden.“ „Don´t worry, be happy.” Es ist Sonntag und ich sitze mit Doktor Adel bei Aiman Morat, Spezialist für alle erdenklichen Sorten Kunststoff. Im Nebenberuf Schweinezüchter. Aiman bietet Tee an. Wir hocken auf kaputten Plastikeimern zwischen Klinikabfällen, gebrauchte Spritzen und Beuteln mit Resten von Infusionslösungen. „Gutes Polyäthylen“, meint Aiman, „das beste Material, das du finden kannst.“ Fasil kommt hinzu, dann Sami und die anderen Nachbarn. Im Nu sind wir umringt von Kindern. Sami kramt ein Foto hervor. Es zeigt seinen Sohn Han, stolz in roter Fußballkluft. „Er ist gut am Ball. Ich sage dir, verdammt gut. Kannst du ihm einen Platz in einem deutschen Klub besorgen?“ Aiman schaltet sich ein. „Mich kannst du auch mit nach Deutschland nehmen. Du musst wissen, ich liebe den deutschen Fußball. Ich bin ein Fan vom FC Liverpool.“ Aber Liverpool liegt in England! „Das ist mir egal.“ Aiman verschwindet für eine Weile. Ich trinke meinen Tee. Aus einem trüben, etwas schmierigen Glas. Wenn man die Augen schließt, schmeckt der Tee nicht schlecht. Dann kommt Aiman wieder, strahlend, in den Händen eine eisgekühlte Flasche Cola. „Für dich“, sagt er, „damit du dir nicht deinen Magen verkorkst.“

Für Kindermissionswerk „Die Sternsinger“