In Bombay erlöst die Rescue-Foundation verschleppte Mädchen aus der Zwangsprostitution
Unter den ungezählten E-Mails, die täglich auf Triveni Acharyas Monitor aufleuchten, weckte eine ihre besondere Aufmerksamkeit. Die Nachricht klang vielversprechend. Sie kam vom Fuße des Himalaya, aus Kathmandu, abgeschickt von den nepalesischen Polizeibehörden. Endlich zwei Zeuginnen! Endlich zwei Mädchen, die es geschafft hatten! Manju und Regina, beide fünfzehn Jahre alt. Mit List, Mut und sehr viel Glück war ihnen gelungen, wovon ihre Leidensschwestern nur träumen. Sie waren entkommen, waren einem Alptraum entflohen. Und sie hatten ihre Scham überwunden, hatten das Schweigen gebrochen. Vor allem lieferten sie Beschreibungen, vage Angaben zwar, aber brauchbar. Triveni Acharya, Präsidentin der Rescue-Foundation im indischen Bombay, rief ihr Team zusammen, darunter vier junge Männer, ihre besten Ermittler im Milieu: Santosh, Mitin, Dinesh und Ashok. Ihr Auftrag: in den Rotlichtvierteln der Zwanzig-Millionen-Stadt Bombay unter Tausenden von Bordellen ein ganz bestimmtes ausfindig zu machen. Eine triste Absteige, in der sechzehn, achtzehn, vielleicht auch zwanzig Mädchen als Sklavinnen eingesperrt wurden. Einige von ihnen aus Nepal. Verschleppt und verkauft. Halbe Kinder.
„Durch Regina und Manju wussten wir“, so die 43-jährige Menschenrechtlerin Triveni, „eine der Bordellmangerinnen hieß Sundari, um die dreißig, eher klein, mit kurzem Haarschnitt. Die ältere, Rupa, trug einen langen schwarzen Zopf, war ziemlich fett und hinkte.“ Ein weiteres Merkmal: beide Frauen sprachen kein indisches Hindi sondern nur ihre Muttersprache Nepali. Nun lag es an Ashok und seinen Kollegen, wie gut sie ihre Rolle spielen würden, als abgezockte Kunden, gierig nach dem sexuellen Kick. Und zwar mit Prostituierten, für die man bei den Zuhälterinnen vorab keine billige gelbe oder gar blaue Plastikmarke kauft, sondern einen grünen Token. „Dafür kann der Kunde unter den jungen, unverbrauchten Mädchen wählen“, erklärt Triveni, „Mädchen, die wahrscheinlich noch nicht HIV-infiziert sind.“ Ihr Preis, von dem sie keine Rupie sehen, beträgt umgerechnet fünf Euro pro Stunde.
Kathmandu, 2500 Kilometer Luftlinie von Bombay entfernt: Seit ihrer Flucht lebt Regina an einem sicheren und geschützten Ort. Von der Stätte ihres Martyriums weiß sie nur, dass unten im Haus ein Kaufladen war. „In den Stockwerken darüber waren die Kontakträume und die Kabinen mit den Pritschen. Wir Mädchen sprachen nur heimlich miteinander. Wenn Sundari mitbekam, dass wir tuschelten, hat sie uns geschlagen. Auf den Flur oder nach draußen zu gelangen, war unmöglich. Vor den Türen standen Wächter. Rund um die Uhr. Sie ließen nur die Kunden durch.“ Bis zu jenem Tag, an dem die Hindus Diwali feierten, das traditionelle Lichterfest.
„An diesem Tag waren viele Männer da“, erinnert sich die 15-Jährige. „Auch Rupas Ehemann. Er hatte getrunken und bekam Krach mit seiner Frau. Sie stritten fürchterlich.“ In dem Tumult schnappten sich Regina und Manju ihre Blechdosen mit den Trinkgeldern der Freier und liefen zur Einlasstür. „Wir riefen dem Wärter zu, Schnell, schnell, Du musst helfen! Er hörte Rupas Geschrei und rannte sofort los, um der Dicken beizustehen. Manju und ich stürzten die Treppen hinunter auf die Straße und sprangen in die erstbeste Motorrikscha.“
Die beiden hatten nur ein Ziel vor Augen. „Central-Station.“ Und von dort mit dem Zug nach Hause. Irgendwie. Ohne Papiere, ohne Ausweise, ohne jede Ahnung, wo Bombay liegt, nicht wissend, dass man auf dem Weg nach Nepal quer durch Indien reisen muss. Und das ohne die Sprache zu verstehen, ohne ein Schild lesen zu können, geschweige denn einen Fahrplan. „Wir saßen verzweifelt am Bahnhof und haben geweint. Doch ein freundlicher Herr hat uns erklärt, welche Züge wir nehmen müssen.“
Sechzig Stunden später haben sich Regina und ihre Freundin zu dem Grenzort Sunauli durchgeschlagen. „Aber wir hatten falsche Fahrkarten gekauft. Als wir kontrolliert wurden, hat uns ein Schaffner die letzten Rupien abgeknöpft.“ Um weiter nach Kathmandu zu gelangen, versetzte Manju, die schon mit 14 Jahren verheiratet wurde, ihren einzigen Besitz: den Brautschmuck. Die goldenen Ohrringe hatte ihr jener Mann geschenkt, der sie später verkaufen sollte. Am folgenden Tag erreichen die beiden die nepalesische Hauptstadt, wenden sich an die Polizei und berichten von Shoba, von Maya und von Anju, die in Bombay zurückgeblieben sind. Mädchen aus den weltfernen Bergdörfern des Himalaya, aus ärmsten Verhältnissen, Analphabetinnen, hübsch und nicht älter als sechzehn.
Die Zahl der jungen Nepalesinnen, deren Spur sich in den trostlosen Schmuddelbordellen von Bombay, Kalkutta oder Poona verliert, schätzt Triveni Acharya auf mindestens 12.000. Hinzukommen 50.000 Minderjährige aus den Armutsregionen Indiens und aus Bangladesch. Ihr Schicksal bewegte kaum jemanden, bis Trivenis Ehemann Balkrishna vor zehn Jahren dem Mädchen- und Kinderhandel den Kampf ansagte und die Rescue-Foundation gründete, eine Einrichtung mit achtzig Heimplätzen und einem engagierten Team aus Psychologinnen, Sozialbetreuern, Juristinnen und verdeckten Ermittlern. 800 Mädchen wurden bislang in geheimen Rettungsmaßnahmen aus der Zwangsprostitution befreit. 2005 jedoch starb Balkrishna Acharya bei einem Autounfall. Triveni stürzte in ein Loch der Verzweiflung, aus der nur ein Weg herausführte. „Ich musste das Erbe meines Mannes fortsetzen.“ Die Journalistin, Ressort Politik und Kriminalität, kündigte bei einer renommierten Tageszeitung, nicht ohne ihr Kapital mitzunehmen: ihre Kontakte. „Bei unserer Arbeit sind wir auf zuverlässige Leute bei der Polizei angewiesen, auf Beamte, die sich nicht kaufen lassen.“
Vorsicht und Verschwiegenheit sind oberstes Gebot, wenn die Befreier ihre Razzien in den Rotlichtquartieren durchführen. „Wir rücken erst mit einem Einsatzkommando der Kriminalpolizei an, wenn unsere Rechercheure minderjährige Mädchen aufgespürt und in die Befreiungsaktion eingeweiht haben“, erklärt Frau Acharya. Wären da nicht die Löcher im Informationssystem, die Risse im Netz der Vertraulichkeit. Die miserabel bezahlten Polizisten sind für Schmiergelder empfänglich, die ihnen die Brothelkeeper, die Bordellaufseherinnen, zustecken, wenn sie vor Razzien gewarnt werden. „Dann sitzen in den Kontaktfluren nur erwachsene Frauen und wissen von nichts“, erfährt der Ermittler Ashok immer wieder. „Die Kinder verschwinden in geheimen Zellen und Kellern.“
Über 5000 Bordelle gibt es in Bombay. Sie sind das Düsterste, was die Megastadt hervorgebracht hat, entwürdigend, zynisch, brutal. Geführt werden sie nahezu ausschließlich von Frauen, die sich „Didi“ nennen lassen, zu Deutsch „Schwester“. Allein das berüchtigte Viertel Kamathipura zählt 600 Häuser, in denen sich 10.000 Prostituierte verkaufen. Oder verkauft werden. Fast jede zweite Frau ist das Opfer von Menschenhändlern. Was Ashok Rajgor und seine Kollegen bei ihren heimlichen Ermittlungen erleben, führt an die Grenze des Erträglichen. Und oft darüber hinaus. „Wenn du siehst, wie schmierige alte Kerle mit verschüchterten Vierzehnjährigen in den Kabinen verschwinden, dann kannst du wahnsinnig werden.“
Nachts mutiert der freundliche und hilfsbereite Sozialarbeiter Ashok zum Bordellgänger, unterwegs in Worli und Bhiwadili, in der Falkland Road oder dem Gewirr von Kamathipura. Ein harter Job, der Mut erfordert, menschliches Mitgefühl und eine gehörige Portion Abgeklärtheit. In Designerjeans, mit Goldkettchen, gegeeltem Haar und getönter Brille nimmt ihm jede Zuhälterin den Sexkunden ab, der für wenig Geld alles verlangen und alles bekommen kann. Ashoks gespieltes Interesse gilt den „fresh girls“, für die er grüne Token bezahlt und von denen er weiß, dass sie nie draußen an den Bordsteinen stehen, sondern „im Labyrinth der Flure und Zimmer versteckt werden“. Ashok erkennt sie an ihrem Blick. „Sie schauen aus leeren Augen, reden nicht und sitzen für sich allein.“ Ein Verhalten, dass sich mit der Zeit ändert. „Nach ein, zwei Jahren beherrschen die Mädchen die obszöne Sprache der Anmache. Nicht weil sie schamlos sind, sondern weil sie sonst nicht überleben.“
Den Mitarbeitern der Rescue-Foundation ist klar, ihr mächtigster Feind bei der Suche nach den jungen Nepalesinnen Anju, Shoba und Maya ist die Angst. Fünfundfünfzig befreite junge Frauen leben zurzeit im Heim der Rettungsorganisation. Alle tragen die Spuren von perfider Gehirnwäsche und bösartiger Folter. Alle sind Opfer der Furcht. Furcht vor brennenden Zigaretten auf der Haut; Angst vor Schlägen, vor Essens- und Wasserentzug, wenn die Anzahl der angeschafften Plastikmarken nicht reicht; Angst vor der Gewalt der Pimps, den skrupellosen Seelenverkäufern; Angst vor den Hoodlums, den Kapuzenmänner, die von den Bordellmanagerinnen angeheuert werden, um mit Vergewaltigungen den Willen der Mädchen zu brechen.
„Ich bin schmutzig. Mich will niemand mehr“, sagt Kalpana, die ihr Alter auf sechzehn oder siebzehn schätzt. Ihr Trauma begann mit einem Schluck „Thums Up“ Cola. Genauer gesagt, es begann mit der Arglosigkeit, mit der sich das Mädchen aus Bengalen von flüchtigen Bekannten einladen ließ. „Die Frau hieß Pinki, der Mann nannte sich Viky. Sie sprachen mich in einem Tempel an, und weil ich durstig war, trank ich mit ihnen eine Limonade. Dann wurde mir übel. Viky gab mir eine Medizin, die ich mit süßem Sirup einnehmen sollte. Danach erinnere ich nichts mehr.“ Kalpana wachte in Bombay auf, zwei Tagesreisen entfernt, „in einem düsteren Haus, in dem es schmutzig war und stank. Dort waren noch andere Mädchen, geschminkt und schrecklich gekleidet, die meinten, so jemanden wie mich hätten sie noch nicht erlebt. Ich hätte sieben Tage und Nächte geschlafen. Dann erklärte mir Didi Geeta, was ich mit den Männern machen sollte. Ich wollte sterben. Aber Geeta malte mir aus, was für Sachen sie mir antun würde, sollte ich mich weigern.“
Gut zweieinhalb Jahre war Kalpana eingesperrt, tausend Tage ohne Sonne. „Am Anfang habe ich die Tage mit den Fingern gezählt, aber nach ein paar Monaten bin ich beim Zählen durcheinander geraten.“ Diesen Januar wurde sie bei einer Razzia in Bhiwandi befreit. „Wir wollten die Durchsuchung des Bordells schon aufgeben“, sagt Triveni Acharya, „alle Mädchen waren plötzlich verschwunden. Doch etwas stimmte nicht. Die Wände passten nicht zu den Räumlichkeiten. Wir suchten weiter, bis wir hinter einem Bad eine verborgene Tür entdeckten.“ In einem winzigen Kabuff steckten Kalpana und zehn weitere Mädchen, verstört, stumm, zitternd vor Angst. Keine von ihnen rief um Hilfe. Aus Furcht. „Didi Geeta drohte“, so Kalpana, „die Polizei würde uns alle verhaften und nach Arabien verkaufen.“
Endlich! Vier Wochen nach dem Hilferuf aus Kathmandu entdecken die Ermittler der Rescue-Foundation das Bordell mit der prügelnden Sundari und der dicken Rupa. Irgendwo im undurchschaubaren Kumathipura. Doch Anju und Shoba vertrauen niemanden, auch nicht Ashok, der sie auf Nepali anredet und verspricht, sie aus ihrer Gefangenschaft zu befreien. „Sie können nicht verstehen, dass ein Mann bezahlt und nicht über sie verfügen will.“ Fünf, sechs Mal mimt Ashok den Kunden, folgt den Nepalesinnen in ihre Kabine, erzählt leise von Manju und Regina, von ihrer geglückten Flucht. Irgendwann fassen die Mädchen Vertrauen.
Dann geht alles schnell. Triveni Acharya alamiert ihre Vertrauensleute bei der Kripo. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit betritt sie mit einigen Mitarbeitern und einem Dutzend Polizisten in Zivil das Bordell. Einige Freier suchen das Weite. Man lässt sie verschwinden. Sundari weiß nicht recht, was gespielt wird, dann keift sie los, schreit sich in Rage. „Raus! Raus hier! Das ist Hausfriedensbruch“ Die Polizisten zücken ihre Ausweise. Sundari wird kleinlaut. „Wir haben mit nichts etwas zu tun“, stammelt sie. „Wir sind nur kleine Angestellte, wir haben hier nichts zu sagen. Wendet euch an den Besitzer.“ Nach ihrer Verhaftung werden Sundari und Rupa schweigen. Wie alle Brothelkeeper werden sie schwören, den Eigentümer nicht persönlich zu kennen. „Damit sagen sie die Wahrheit“, meint die Juristin der Rescue-Foundation Monica Agra. „An die eigentlichen Chefs kommt man nicht heran. Die stammen aus höchsten Kreisen und bleiben anonym. Zwischen ihnen und den Managerinnen sind fünf, sechs Instanzen geschaltet, in denen sich jede Spur verliert.“ Die Folge: Zuhälterinnen wie Rupa, Sundari und Geeta wandern für 21 Tage in Untersuchungshaft. „Eine Gerichtsverhandlung oder gar ein Urteil ist, wenn überhaupt, frühestens in drei Jahren fällig.“
Dennoch, bei der Aktion wurden vierzehn Mädchen aus ihrem Alptraum befreit. Darunter Anju, die glaubte, ihre nepalesische Familie aus der Armut führen zu können, weil ein Mann namens Bhaya versprach, er werde ihr in Bombay eine gut bezahlte Arbeit in einer Keksfabrik besorgen; Shoba, die keinen Schimmer hat, wie sie überhaupt nach Indien verschleppt wurde, nachdem sie in Kathmandu einen Fruchtsaft trank und das Bewusstsein verlor; Puja aus Kalkutta, die ihrem Ehemann Shivkomar blind vertraute, nicht ahnend, dass er bereits ein halbes Dutzend Mal verheiratet war und mit seiner Mutter beim Mädchenverkauf gemeinsame Sache machte. Sie alle leben heute im Heim der Rescue-Foundation, einige Wochen, ein paar Monate, oft auch länger.
„Das Problem ist“, erklärt Präsidentin Triveni, „die Mädchen hier sind faktisch staatenlos. Ausweise und Papiere sind das erste, was ihnen die Menschenhändler abnehmen, um die Flucht zu erschweren.“ Zeitaufwändige Verhandlungen mit Behörden in Nepal oder Bangladesch sind nötig um jenes Verfahren einzuleiten, das sich Repatriierung nennt, die Rückkehr der Mädchen in ihre Heimat. Hinter allen juristischen Hindernissen taucht indes eine schier unüberwindbare Hürde auf. Die hat auch Regina nach ihrer Flucht erfahren. Für sie ist in Nepal nichts mehr wie früher. Die Tür zu ihrem Elternhaus bleibt verschlossen. „Es ist der Fluch der Schande“, sagt Triveni Acharya. „Manche Familien glauben, ihre verschleppten und missbrauchten Töchter hätten ihre Ehre beschmutzt.“
Kein Wunder, dass die Mädchen in der Rescue-Foundation an ihrer „Mummy“ hängen. So nennen sie ihre Ersatzmutter Triveni, aus tiefer Zuneigung und aus Dankbarkeit, endlich das zu finden, was sie nie hatten: eine Kindheit und Jugend. Wenn die Mädchen ihre Hausarbeiten und die Aufgaben zum Erlangen eines Schulabschlusses erledigt haben, offenbart sich ihr verspieltes und unschuldiges Gemüt. Sie tanzen Ringelreihen, legen stundenlang Puzzles und malen mit Buntstiften. Mit einem Blatt Papier platzt Aarti in ein Gespräch des Mitarbeiterstabs und hält Triveni ein Bild vor die Nase. Rotkäppchen mit Blumenkörbchen. „Das ist wunderschön.“ Mummys freundlicher Satz reicht um die Siebzehnjährige zum Strahlen zu bringen.
Ein Ausflug steht auf dem Programm, eine Picknickfahrt in ein Spaßbad weit weg vom Moloch Bombay. In voller Kleidung springen fünfzig Mädchen ins Wasser, plantschen, rutschen, kreischen. Eine Horde Collegeboys riskiert zaghaft Blicke. Erstes pubertäres Imponiergehabe. Doch die jungen Frauen bleiben unter sich, tanzen im Springbrunnen zu den dröhnenden Beats der Disco, stundenlang, selig, frei und selbstvergessen. Sie sind einfach nur Mädchen. Nichts erinnert in diesen Momenten des Glücks an ihre Geschichte.
2008, für Kindermissionswerk: Die Sternsinger