Wenn Gadsche den Roma eine Stimme geben

„Ihr glaubt alles, was man euch erzählt“

Vor einigen Jahren fuhr ich mit den Ethnologen Elena Maruschiakova und Vesselin Popov in den Osten Bulgariens. Das Ehepaar zählt zu den angesehensten Zigeunerforschern Europas und hatte erfahren, dass in einer entlegenen Hügellandschaft mit dem sinnigen Namen Lügenfeld eine Roma-Sippe campierte. Es waren Familien, die im Winter in der Industriestadt Harmanli wohnten und im Sommer mit Pferden und Zelten über Land zogen, um Hölzer zu schneiden. Die Äste exportierte ein Aufkäufer nach Arabien, wo aus dem Holz edle Messerschäfte gefertigt wurden. Als die Zigeuner abends hungrig in ihr Lager zurückkehrten, fragte ich den Sippenchef beiläufig, was es zu essen gäbe.

„Was wir finden“, antwortete Stojan Stajkov, ein überaus freundlicher Mensch. „Kaninchen sind gut, aber am besten schmecken Schlangen. Wir fangen sie zwischen den Sträuchern, ziehen ihnen die Haut ab und rösten sie über dem Holzfeuer.“ Ich notierte: „Holzschneider grillen Schlangen.“

„Was hat euer Reporter aufgeschrieben“, fragte Stojan meine grinsenden Freunde.

„Dass ihr Schlangen esst.“

Die Männer bogen sich vor Lachen, die Frauen fassten sich entsetzt an den Kopf. Ich schaute reichlich dümmlich drein, als Elena erklärte: „Kein Roma käme im Traum darauf, eine Schlange zu essen. Schlangen sind ein Tabu.“

„Ihr Schreiberlinge seid nette Leute“, klopfte mir Stojan auf die Schulter. „Ihr glaubt jeden Blödsinn, den man euch erzählt.“

Ich fürchte, der gute Stojan hat recht.  

Die Roma bezeichnen Fremde als „Gadsche“. Das heißt soviel wie Dummkopf, Bauer oder auch Feind. Trotzdem habe ich es als Gadscho stets als Glück empfunden, Menschen wie Stojan Stajkov zu begegnen. Und es gibt unter den Roma viele Stojans. Humorvolle, gastfreundliche, schlitzohrige, rundum liebenswerte Menschen. Der serbische Regisseur Emir Kusturica hat ihnen in seinen Filmen ein Denkmal gesetzt. Das Kinobild des freiheitswilden Zigeuners ist natürlich ein Klischee. Aber ein real existierendes. Lange Jahre personifizierten die Roma für mich das Fremde schlechthin, das anarchische, ungezähmt Andere, den Ort einer diffusen, gewiss auch romantisierenden Sehnsucht. Noch immer beruhigt mich die Gewissheit, dass eine Tagesreise entfernt, in slowakischen, ungarischen oder rumänischen Dörfern jene Stojan Stajkovs leben, denen der Habitus frostiger Distanziertheit und biederer Korrektheit fremd ist. Auf die Frage, was er von den Zigeunern gelernt habe, sagte mir diese Tage der siebenbürgische Pfarrer und Schriftsteller Eginald Schlattner: „Lebenslust und Gottvertrauen“.

1990 fuhr ich erstmals nach Rumänien, um den Exodus der Siebenbürger Sachsen zu dokumentieren. Nach dem Ende der Schreckensherrschaft Nicolae Ceausescus konnten die Deutschstämmigen dem Reich der Schatten nicht schnell genug entfliehen und verscherbelten ihre Anwesen zu Spottpreisen. In viele Sachsenhöfe zogen Roma-Familien ein. Im Frühjahr darauf waren die Häuser unbewohnbar. Die Tzigani hatten ihre neuen Heime im wahrsten Wortsinn verheizt. Zuerst verfeuerten sie die Klohäuschen im Garten, dann Fußböden, Fensterrahmen und Dachbalken. Die letzten verbliebenen Sachsen waren darüber keineswegs entsetzt. Sie meinten nur: „So sind sie halt, die Zigeuner.“ Der Satz war kein Ausdruck von Rassismus als vielmehr der Fassungslosigkeit geschuldet, zu welch sonderbarem Verhalten der Mensch fähig ist. Oft habe ich vor jenem Graben gestanden, der einen Gadcho von den Roma trennt. Die Koordinaten unserer Wahrnehmung und Welterklärung driften auseinander, als tickten da Uhren zeitversetzt in asynchronem Takt.

Über Jahre hinweg besuchte ich den siebenbürgischen Weiler Wolkendorf unweit von Schäßburg. Hier lebten Zigeuner vom Familienverband der Gabors. Nie sah ich die Männer Sommertags etwas anderes tun, als am Straßenrand zu hocken und zu rauchen. Im Herbst erklärten sie, zum Holzsammeln fehle die Zeit, weil sie auf einen Patron warten müssten, der ihnen Arbeit versprochen hatte. Im Winter fehlte das Geld um Holz zu kaufen, weil der Patron nicht aufgetaucht war. Die Frauen tranken, um zu ertragen, dass ihre trinkenden Männer sie verprügelten. Die Männer schlugen ihre Frauen, mit der Begründung, sie würden zuviel trinken. Die Frau, die am häufigsten Schläge erhielt, hieß Suzanna. Sie hatte fünfzehn Kinder geboren, von denen sechs noch lebten. Die Rumäninnen behaupteten, Suzanna hätte ihre Kinder verhungern lassen. Susanna behauptete, ihre Brust hätte keine Milch mehr gegeben. Ihre Schwiegertochter Clara sagte über ihr verstorbenes Kind Luise, das Mädchen wäre so schön gewesen, dass Gott es zu sich holte. Die Nachbarn sagten, Luise wäre an einer Lungenentzündung gestorben, weil die Dreijährige im Winter nackt herumlaufen musste. Die Roma-Mütter beklagten, sie besäßen keine warmen Kleider für ihre Kinder. Die Sachsen meinten, die Zigeuner hätten die letzte Caritas-Lieferung eben nicht für Schnaps versetzen dürfen.

„So sind sie nun mal.“ Hunderte Male habe ich diesen Satz gehört, und ebenso viele Male habe ich die Lebensweise der Roma gerechtfertigt: als Erbe einer jahrhundertealten Last aus Feindschaft und Ablehnung, Ausgrenzung und Verfolgung, aus Vernichtung und Hass; als Konsequenz von Versklavung und Leibeigenschaft; als Folge der Ohnmacht gegenüber Ausbeutern und Abschiebern und all den kühl kalkulierenden Sarkozys, die für ihre verkorkste Politik die Miserablen dieser Erde als Sündenböcke missbrauchen. Alles richtig, alles korrekt, aber wenig hilfreich. Denn es gibt auch eine andere Wahrheit. Während knapp einhundert Reisen durch Osteuropa und nach gut 30.000 Fotografien in den vergangenen zwanzig Jahren erinnere ich keinen Rom, der für die Wurzel seiner Misere ein Stück Verantwortung bei sich selber gesucht und gefunden hätte.

Unstrittig ist, dass die Roma nach dem Untergang des Sozialismus von den Gesetzen des freien Marktes entwurzelt und ins soziale Elend katapultiert wurden. Bulgarische Schmiede und Verzinner haben keine Chance gegen billige Blechtöpfe aus China. Verhängnisvoll jedoch ist, dass viele Roma in Apathie erstarren und ihren Opferstatus perpetuieren. Das verbindet sie mit ihren Fürsprechern unter den Gadche, die den Roma immerzu attestieren, als Opfer der Gesellschaft um ein eigenverantwortliches Leben betrogen zu sein. Obwohl rührige Kongress-Roma  permanent das Elend in jenen Siedlungen beklagen, die sie selber kaum betreten, meinen westeuropäische Intellektuelle wie der französische Philosoph André Glucksmann oder der Nobelpreisträger Günter Grass, die Roma seien „ohne Stimme“. Folglich ist für sie zu sprechen.

Glucksmann nahm die kompromisslosen Abschiebungen rumänischer Roma aus französischen Vorstädten zum Anlass, für deren Recht einzutreten, als Nomaden frei umherziehen zu können. „Das tragische Gesicht der Entwurzelung“, schrieb er in der „Welt“, „das sind jene Umherirrenden, die man von einem wilden Camping zum nächsten jagte, womit man sie de facto des Rechts beraubt, zu reisen und zu betteln.“ Glucksmann glaubt, einer ganzen Ethnie einen Gefallen zu tun, wenn er für ihr Recht streitet, in europäischen Fußgängerzonen dem Klischee des parasitären Bittstellers zu entsprechen. Nun gut. Irrig aber ist die Annahme, ein Freibrief zur Bettelei beschere den ärmsten Zigeunern ein solides Auskommen. Nur die Prunkpaläste werden ein paar Stockwerke wachsen, während die Leibeigenen der Clanmafiosi vor dem römischen Kolosseum ihren letzten Rest an Würde verspielen. Am Rande rumänischer Städte übertrumpfen sich Zigeunerpatrone in einem bizarren Wettbewerb um den Protz ihrer Kitschburgen. Fast alle Zimmer stehen leer, denn die architektonische Klotzerei dient nur sekundär dem Zweck des Wohnens. Es geht um die Demonstration, zu den Siegern zu gehören. In westlichen Medien ist es politisch opportun, zu kolportieren, das Geld für den Prunk stamme vom Sammeln von Alteisen. Soviel Schrott gibt es in Rumänien nun auch wieder nicht.

„Metalldiebe scheffelten Millionen“, vermeldeten westfälische Zeitungen diesen Herbst. Die Polizei im Märkischen Kreis hatte dreizehn „rumänische Staatsbürger“ festgenommen, Mitglieder einer Bande, die von Dortmunds Nordstadt aus operiert. Rund einhundert Einbrüche, bei denen tonnenweise Kupferkabel und teure Buntmetalle aus Fabriken geklaut wurden, werden der Bande angelastet. Der Erlös der Beute, hieß es, werde in Rumänien in Immobilien investiert.

Im Sommer 2009 erhielt ich Audienz bei dem König der Roma in Hermannstadt. Als Oberhaupt der Kalderasch-Zigeuner hat Florin Cioaba das Amt von seinem Vater Ioan geerbt. Der hatte sich zu Beginn der neunziger Jahre eine goldene Krone fabrizieren lassen und sich selbst inthronisiert. Ioan Cioaba gewährte mir damals ein Foto vor einem ramponierten Benz. Dafür kaufte ich ihm eine Video-Kassette mit folkloristischen Zigeunertänzen ab. Heute empfängt sein Sohn Florin seine Gäste in einem Saal mit Kristalllüstern,  Barockstuhlimitaten und Ölgemälde des Vaters ritterlich zu Ross. Vor der rumänischen Staatsflagge sagt der Roma-Funktionär Sätze, die alle nicht falsch sind. Dass Bettelnetzwerke und Einbrecherbanden dem Image der Roma schaden. Dass Neofaschisten nicht nur in Ungarn den Rassenhass schüren. Dass es diskriminierend ist, wenn Jobangebote in Zeitungsanzeigen Roma ausschließen. Dass viele Zigeuner nicht gelernt haben zu arbeiten. Cioaba schätzt, dass zehn, maximal zwanzig Prozent der Roma in Rumänien integriert sind. Warum nicht mehr? „Die Europäische Union gibt uns zuwenig Geld.“ Ein Fotoporträt vor der Limousine im Hof hält der König für keine gute Idee. Dort parkt ein neuer Maybach.

Obszöner Reichtum und pseudofeudaler Pomp passen nicht in das Zigeunerbild der Intellektuellen, die den Roma ihre Stimme leihen. Ebenso wenig wie die Patrone von Bettelclans, die Schlepperbosse und die Kreditwucherer, die mit ihrem System der Schuldknechtschaft die Ärmsten ihres Volkes bis auf das letzte Hemd ausbeuten. Frauen wie Cornelia Lakatus. Im transsilvanischen Cetatea lebt sie mit neun Kindern in einer Hütte aus Astwerk und Lumpen. Zwei ihrer Söhne betteln in Frankreich, nicht etwa um Geld für ein menschenwürdiges Heim, sondern für den Wohlstand eines lokalen Kredithais, der auch die Sozialhilfe für Cornelias geistig behinderte Tochter Vandana kassiert. Die Zweiundvierzigjährige zahlt damit nicht ihre Schulden ab, sondern tilgt nur horrende Kreditzinsen. „Das ist normal hier“, sagt Ivan Sovi-Ioan, der Pfarrer aus Cetatea. „Wer nicht zahlen kann, dessen Kinder werden nach Europa verschleppt.“ Kürzlich musste der Mann erleben, wie ein Wucherer in seiner Kirche den Kindern verschuldeter Eltern ein Gelübde abnötigte. „Vor Gott mussten sie schwören, dass sie keinen in Frankreich erbettelten Cent für sich behalten.“

Für Günter Grass sind die Zigeuner als „geborene Europäer“ in der Lage, „uns zu lehren, Grenzen zu überschreiten, mehr noch, die Grenzen in uns und um uns aufzuheben“ und ein „grenzenloses Europa zu schaffen“. Gewiss wird es Grass nicht in Dortmunds Nordstadt verschlagen, aber er könnte sich auf der Webseite www.hinter-hornbach.de die Schattenseiten seiner grenzenlosen Naivität anschauen. Wo unweit eines Baumarkts ein ausufernder Straßenstrich ein Stadtviertel in die Verwahrlosung kippt, verkaufen rumänische und bulgarische Roma ihre Frauen. Zum Vergnügen von Zeitgenossen wie Himbeer-Toni, Palerider oder Oralfreund, die sich in Internetportalen darüber auslassen, welche „Ziggos“ für 20 Euro am meisten bieten. „Der geilste Strich ever! Viele junge Hasen, die alles mit sich machen lassen“, schwärmen Typen wie „biker“. Verkehrte Welt: Die Zuhälter und Dealer im Dortmunder Norden werden von den Behörden geduldet. Die wirklich bedrohten Roma, die einst vor Krieg und Verfolgung aus dem Kososo flohen und seit Jahren integriert mit ihren Kindern in der Bundesrepublik leben, werden abgeschoben.

Grass fordert für die Roma einen „Europapass, der ihnen von Rumänien bis Portugal das Bleiberecht garantiert“. Das klingt human. Nur ignoriert Grass jene, die den Preis der Reisefreiheit zahlen. Sie leben in ungezählten rumänischen Kinderheimen, wie dem „Stern der Hoffnung“ in der Stadt Alba Iulia. Als ihre Mutter ins Ausland abhaute, blieben Marcelo, Alex und Alexandra, elf, zehn und acht Jahre alt, zurück. Ebenso die Geschwister Simona, Andrea und der dreijährige Cosmin. Vor einem Jahr verschwanden ihre Eltern zum Betteln nach Westeuropa. Sie meldeten sich nicht wieder.

Von den 1200 Tzigani aus Rosia, dem einstigen Sachsendorf Rothberg, kann sich kaum jemand ein Ticket nach Paris oder Madrid leisten. Wohl zahlten einige Familien im Sommer ihre Ersparnisse an einen Schlepper. „Der Kerl wollte uns als Erntearbeiter nach Europa bringen, aber er kam nie wieder“, schimpft Suzanna Cimpoier. „Diebe, überall Diebe“, klagt ihr Vater Ion. Der Achtundsiebzigjährige ersehnt jene Zeiten zurück, als die Zigeuner aus Rothberg noch ein Auskommen hatten und den Sachsen bei der Ernte halfen. „Das waren ehrliche Leute.“ Doch die Kultur der Siebenbürger ist tot. In der verwaisten Wehrkirche liest der berühmteste Bewohner des Dorfes sonntags die Messe vor leeren Bänken. „Nur für mich selbst“, sagt Pfarrer Eginald Schlattner.

Im Dezember besuchte ich den erzählmächtigsten siebenbürgischen Schriftsteller, der sich in seinen 77 Jahren den Ruf als „Schutzpatron der Zigeuner“ erworben hat. Anders als Andre Glucksmann, der für ein ungehindertes Nomadentum von Bittstellern votiert, sieht Schlattner nur einen Weg, der die Zigeuner aus ihrem Dauerelend herausführen könnte. „Schule, Schule und nochmals Schule!“ Der Weg über die Bildung jedoch ist ungleich mühsamer als das Erbetteln von Almosen. Schlattner ist bereit für die Integration der Zigeuner zu bezahlen. Für Mädchen wie Carmen Bianca, deren Vater jeden Monat fünfzig Euro kassiert. Mit solchen Zahlungen erkauft der Pfarrer Zigeunerkindern die Erlaubnis zum Unterrichtsbesuch. Vor Schlägen schützen kann er die lernbegierigen Kinder mit Geld allerdings nicht. Vor wenigen Wochen lag Carmen halbtot geschlagen im Hospital von Hermannstadt. „Wo Kinder von ihren Eltern verprügelt werden, weil sie zur Schule möchten“, so Schlattner, „stellt sich die Frage der Diskriminierung der Zigeuner anders als in den Diskussionen in Westeuropa.“

„Der Roma macht Angst“, weiß Andre Glucksmann. „Er ist uns ein Abbild des Entwurzeltseins. Die Furcht vor den Roma ist nur die uneingestandene Angst vor uns selbst.“ Als ich nach dem Besuch bei Eginald Schlattner nachts mein Hotel in Hermannstadt aufsuchte, kam eine junge Zigeunerin auf mich zu. Sie mag fünfundzwanzig gewesen sein. In gebrochenem Deutsch und mit aggressiver Hartnäckigkeit bot sie mir „zwei Mädchen“ an. „Kannst du aussuchen. Eine blond, eine schwarz, beide süß. Ganz lieb.“ In diesem Moment hätte Andre Glucksmann begreifen können, dass es nicht nur eine Furcht vor, sondern auch eine Furcht um die Roma gibt. Um ein Volk, das keine Gadche mehr braucht, um den Traum von ziganer Freiheit zu zerstören.