Wenn Menschen Emotionen zeigen

Wenn Menschen Emotionen zeigen

von Axel Kintzinger

Der erste Satz muss krachen. Er muss überraschen, überrumpeln, neugierig machen. Gute Aufmachersätze in Reportagen lesen sich so: „Sie heißen Rommel, Diesel und Don Krawallo.“ Oder so: „Der Präsident der Aasfresser lebt am Rande des Infernos.“ Auch etwas länger kann sehr gut sein: „Die halbe Nacht ist Ebe mit seinem Truck über die Bundesstraße Pará 150 Richtung Norden gebrettert, halbwegs rücksichtsvoll.“ Wer nach einem solchen Einstieg nicht weiterliest, ist entweder Analphabet oder Ignorant – oder beides. Vor allem verpasst er etwas, zum Beispiel die Auflösung der Anspielung im nachgestellten Nebensatz: „Für eine Rotte Wasserschweine hat er gebremst. Zwei Katzen und ein paar dicke Frösche so groß wie halbe Fußbälle hatten keine Chance.“

Rolf Bauerdick hat ein Faible für solche Anfänge, und er hat ein Händchen bei der Suche nach ihnen. Manchmal erfüllen seine Geschichten die alte Forderung von Wolf Schneider, eine gute Reportage müsse „wie ein Erdbeben anfangen“ und „sich dann langsam steigern“. Schneider hatte allerdings nur an Texte gedacht. Doch Bauerdick liefert zum bewegenden Wort auch noch die passenden Fotos. Dabei sind seine Bilder nie schrill, sind eher leise, selten laut. Fragt sich bloß, wann er die macht – und wie. Schließlich muss der Textreporter Bauerdick auch recherchieren, interviewen, fragen, reden, zuhören. Und gute Bilder brauchen ihre Zeit. Brauchen den besonderen Blick, über den Schreiber in aller Regel nicht verfügen. Diesen Blick, der zu Bildern führt, an deren Entstehen wir Texter uns überhaupt nicht erinnern können, obwohl der Fotograf doch dauernd in unserer Nähe war.

Für Journalisten, die in kleinen Tageszeitungen arbeiten, ist die Verbindung von Text und Foto alltäglich. Doch was Lokalredakteure oft als aufgezwungene Zusatzbelastung empfinden, ist für den früheren Theologen und Literaturwissenschaftler Bauerdick pure Lust. Möglicherweise, weil er so gut fotografiert wie er schreibt. Vielleicht sogar besser. Seine Bilder erscheinen im Stern, im Schweizer Magazin oder im Wochenendjournal von El Pais – also an Orten gehobener Fotografie. Vor Jahren hätte niemand an eine solche Karriere auch nur gedacht. Damals nahm der zu jenem Zeitpunkt freie Mitarbeiter des Kulturteils der Münsterschen Zeitung erstmalig einen Fotoapparat in die Hand. „Du kannst dir 20 Mark dazuverdienen“, hatte ihm MZ-Redakteur Bernd Behr geraten, „wenn du das Bild zu deiner Geschichte selber knipst.“ Dieser Tipp wurde – unabhängig von dem Minihonorar – so etwas wie eine Initialzündung. Denn kaum war er mit der Kamera unterwegs, entdeckte Bauerdick eine neue Leidenschaft, die sich mit der alten wunderbar verknüpfen ließ. Vor allem, weil seine Geschichten überwiegend in verborgenen Gegenden spielen, an Orten, die von den Massenmedien meist übersehen werden: Auf den Höfen von Braunkohlelieferanten in Sachsen etwa, den Müllkippen von Manila (Philippinen) oder im brasilianischen Regenwald. Berichtete er als Lokalreporter über die Arbeit und die Hilfsprojekte von Dritte-Welt-Gruppen oder Solidaritätskomitees, die in einer Universitätsstadt wie Münster gehäuft auftreten, so näherte er sich im Laufe der Jahre direkt den Themen, die diese Gruppen – und auch ihn selbst – beschäftigten. Mittlerweile zieht Bauerdick das Fotografieren dem Schreiben vor. „Mich fasziniert der sinnliche Moment der Bildwerdung“, erklärt er den Prozess in der Dunkelkammer.

Natürlich nimmt jeder Reporter gern für sich in Anspruch, ganz nah ranzugehen. Bauerdick betreibt diese Annäherung obsessiv. Gewiss würde sich eine Reihe von Reportern an eine Geschichte über Menschen auf der Müllkippe von Manila heranwagen – aber würden sie dort auch zwei Wochen lang leben? In einem Holzverschlag schlafen, essen, arbeiten, wo es doch in Manila garantiert ein Hilton gibt, das der Verlag auch einem freien Mitarbeiter wie Bauerdick bezahlen würde? „Fremde Menschen, noch dazu aus fremden Kulturen, erzählen mir ihre Geschichten am besten abends, beim Bier“, sagt Bauerdick. Wenn die Leute auf vertrautem Terrain entspannt sind und ein wenig Zeit haben, öffnen sie ihr Herz. Tagsüber haben sie zu tun. Auch Bauerdick kann keine endlosen Gespräche führen, solange die Sonne scheint. Denn diese Zeit braucht er zum Fotografieren. „Es ist nicht so, dass ich tagsüber stumm hinter meiner Kamera agiere“, sagt der Text- und Bildautor, „aber vollständig einlassen kann ich mich auf meine Gesprächspartner erst abends.“ Und deswegen ist er immer bei ihnen. Sitzt mit den Jugendlichen einer kolumbianischen Straßengang in deren Lieblingskneipe in Bogotá. Hockt zwischen den Wohnwagen einer Zigeunerfamilie in Rumänien. Mischt sich unter die Wallfahrer im polnischen Kalwaria Zebrzydowska.

So sehen wir die 18-jährige Chefin einer Jugendgang. Bauerdick hat sie – die sonst so stark ist und den Überlebenskampf in den Slums von Bogotá beherrscht wie kaum ein Erwachsener – in einem eher schwachen Moment getroffen: aus der Dusche oder vom Baden kommend, nur in ein Handtuch gewickelt, verletzlich und sehr schön. Nur in ihren Augen flackert dieses Feuer, das die ganze Geschichte am Brennen hält.

Oder wir sehen die Zigeuner, deren Vertrauen sich Bauerdick mühsam und mit Hilfe von auf beiden Seiten anerkannten Mittlern erworben hat – sie öffnen ihre Türen, und sie öffnen auch ihr Herz. Man schaut in neugierige, offene Gesichter mit einer großen Würde, die das materielle Elend überstrahlt. „Selbst die Ärmsten der Armen haben ihre Würde“, hat Rolf Bauerdick erfahren, „haben ihre Lebensfreude, ihre Tiefpunkte und ihre Erfolgsmomente.“ Und der Fotograf macht jene, auf die – wenn sie denn in ihren Slums oder auf ihren Müllbergen überhaupt jemand wahrnimmt – sonst nur herabgesehen wird, zu unverwechselbaren Menschen mit ihren eigenen Geschichten, eigenen Träumen und Hoffnungen. Und hilft auf diese Weise uns Betrachtern, die Würde der von ihm Porträtierten zu erkennen.

So holt er die Menschen aus dem Heer der namenlosen Verarmten und der unbekannten Hungerleider heraus und macht sie uns samt ihrer Geschichte bekannt. Im Rahmen eines dreijährigen Projekts zum Thema katholische Volksfrömmigkeit hat Bauerdick religiöse Rituale beobachtet – in vielen Ländern Europas, aber auch in Südamerika und in Asien. Die Bilder zeigen Menschen, die sich, wie unterschiedlich auch immer, dem Himmel nah fühlen.

Bauerdick nimmt sich stets viel Zeit für seine Reportagen. Wo Journalistenteams nach einer oder spätestens zwei Wochen wieder abreisen, ist für ihn noch lange nicht Schluss. Das hat natürlich damit zu tun, dass er beides macht – fotografiert und schreibt. Und gewissermaßen kann er es sich leisten, weil Bauerdick sowohl für den Text als auch für die Fotos honoriert wird, ohne dabei jedoch Reichtümer anhäufen zu können. Allerdings stoßen seine Geschichten nur in wenigen Redaktionen auf Resonanz. Das Interesse an sogenannten „real people“, also Menschen ohne Glamour-Faktor, geht nach seinen Erfahrungen stark zurück. Im Unterschied zu ausländischen Zeitschriften interessiert sich in Deutschland derzeit kein Magazin für Bauerdicks aktuelle Langzeit-Arbeit über die Situation der europäischen Zigeuner. Die weiten Reisen und die dazugehörigen Aufwendungen finanziert eine Stiftung in New York. Schon liegen beeindruckende Bilder aus Zigeunersiedlungen in Rumänien oder Südfrankreich vor. Sie präsentieren stets Menschen, die Emotionen zeigen. Diese Momente sind „ehrlich und enthüllend“, sagt Bauerdick. In solchen Momenten drückt er ab.

aus: FreeLens Magazin Nr. 9, 1999