Brasilien: Köhler im Regenwald

Aufmacherbild_Holzköhler

Vom Reichtum
bleibt hier nichts

Die halbe Nacht ist Ebe mit seinem Truck über die Bundesstraße Pará 150 Richtung Norden gebrettert, halbwegs rücksichtsvoll. Für eine Rotte Wasserschweine hat er gebremst, zwei Katzen und ein halbes Dutzend Frösche so groß wie halbe Fußbälle hatten keine Chance. Und die fette Zweieinhalb-Meter Boa erwischte ein LKW auf der Gegenfahrbahn. Zwei Stunden nach Mitternacht nähern wir uns Goianésia. „Ein paar Kilometer noch“, sagt der Trucker, als sich grauer Rauch über die versteppte Landschaft legt und das silbrige Licht des vollen Mondes trübt. Immer dichter werden die Rauchschwaden, Brandgeruch kratzt in Nase und Hals, dann tauchen seltsam unwirklich im beißenden Qualm die ersten Behausungen auf. Vorbei an den schemenhaften Umrissen eines Sägewerks und schier endlosen Stapeln abgeholzter Mahagonistämme findet der Laster seinen Weg zu den Wohnbaracken neben den Kohlenmeilern. Ebe hupt kurz, schiebt ein schmieriges Laken vor einem Bretterverschlag zur Seite und klatscht in die Hände. Lustlos und gähnend quälen sich vier düstere Gestalten aus ihren Hängematten.

Im schwelenden Rauch der Kohleöfen, bei Temperaturen die hier im südöstlichen Amazonasgebiet auch nachts nicht unter 25 Grad sinken, beginnt für Sergio und seine Kollegen die Knochenarbeit. Mit überdimensionalen Forken schaufeln sie Holzkohle in riesige Körbe, die sie zu zweit auf ihre Schultern wuchten. Im Laufschritt hetzen sie über eine schmale, halsbrecherische Leiter und kippen die staubrieselnde Kohle in den vier Meter hohen Truck. 55 Kubikmeter sind aufzuladen, Holzkohle aus zwölf Meilern. Mit jedem Zentnerkorb werden die Schritte langsamer, der Atem keuchender. Mit jedem Luftzug saugen die Handlanger feinste Staubpartikel in ihre Lungen, bis zur Morgendämmerung. Mit den ersten Sonnenstrahlen endet die vierstündige Tortur. Dann werden Sergio und seine Kumpel erschöpft in einen Nebenarm des Rio Tocantins springen und sich in der lauen Brühe den Dreck vom Leibe spülen. Während sie noch immer schwarzes Gespei rotzen, wird sich Ebe in der glühenden Mittagssonne am Rande der Stadt Marabá in die Schlange der Lastwagen einreihen. Vor den Werkstoren der Roheisenfabrik COSIPAR harren die Fahrer aus, um ihre Kohlenfracht abzuliefern. Für die Eisenverhüttung in den Hochöfen.

Den unglaublichen Bedarf von 25 Millionen Tonnen Holzkohle pro Jahr planten Experten ein, die zu Beginn der siebziger Jahre mit dem „Programa Grande Carajás“ eines der größenwahnsinnigsten Industrieprojekte ins Leben riefen, mit dem je die Reichtümer der Erde ausgebeutet werden sollten. In den Bergen von Carajás im brasilianischen Bundesstaat Pará waren die ergiebigsten Eisenerzvorkommen der Welt entdeckt worden. 18 Milliarden Tonnen hochwertigstes Erz lagern unter dem Regenwald, Eisengehalt 66 Prozent. 35 Millionen Tonnen fördert die brasilianische Gesellschaft Companhia Vale do Rio Doce jedes Jahr allein aus dem gigantischen Erdloch der Grube N4E. Die Vorräte reichen für Jahrhunderte.

„Wir leben in einer der reichsten Gegenden der Erde“, sagt Dom José Vieira, der Bischof der wildwuchernden Stadt Marabá: „Edelhölzer, wertvolle Mineralien, Gold, Bauxit für die Aluminiumproduktion, Mangan und bestes Eisenerz, alles ist hier zu finden. Doch alles geht raus und nichts kommt zurück. Nicht einmal ein Prozent des Reichtums bleibt in der Region.“ Die Erlöse waren verpfändet, noch bevor die erste Tonne Eisen in den Export ging.

Jeden Tag ziehen drei kraftstrotzende Lokomotiven fünf Güterzüge Richtung Atlantikküste. Mit jedem Mal rollen 200 Waggons gefüllt mit 95 Tonnen Erz auf einem neunhundert Kilometer langen Schienenweg in den Hafen von Sao Louis. Die Trasse wurde mit Milliardenaufwand durch den einstigen Regenwald geschlagen, um die Stahlmärkte Japans und der Europäischen Union, vor allem die Bundesrepublik, mit Erz zu beliefern. Mit den Erlösen wollte Brasiliens seine immensen Auslandsschulden abzahlen. Doch zu hoch waren die Investitionen der wirtschaftlichen Erschließung, zu hoch die Kredite, zu hoch die Zinsen. 2,7 Milliarden US-Dollar lieh die Weltbank, 130 Millionen die deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau. Mit 600 Millionen Dollar beteiligte sich die Europäische Union an den Investitionskosten für das Carajás-Projekt und sicherte sich ein Drittel des jährlich geförderten Erzes. Zu einem Vorzugspreis. 58 Prozent der EU-Importe aus Brasilien gehen an Thyssen, Krupp, Mannesmann und Arbed-Saarstahl. 1994 waren es 107 Millionen Tonnen.

Links und rechts des Schienenstranges verschwand der Urwald, auf eine Breite von über 150 Kilometern, „zur Erhöhung der Wertschöpfung“, so der offizielle Jargon. „Verlogenes Gerede“, sagt Bischof Dom José. „Die Wälder sind zerstört, die Luft ist verpestet und die Menschen leiden Not.“ Wie bittere Ironie wirken die bunten Wandbilder des kämpferischen Kirchenmanns in der Küche seines bescheidenen Drei-Zimmer-Amtssitzes. Die Poster zeigen romantische Waldlandschaften und heimelige Bergwälder – aus den Alpen. Dergleichen Idyll ist in der Carajás-Region verschwunden.

Regenwald von der Fläche der Bundesrepublik wurde gerodet, seit Hunderttausende mit der Hoffnung aus Lohn und Brot in die Region strömten: landlose Bauern und verarmte Viehzüchter, rechtlose Leiharbeiter und Lohnsklaven, Abenteurer, Goldschürfer und Holzköhler. Letztere sind es, die mangels Steinkohle die Hochöfen für die Roheisenproduktion in den Hüttenwerken entlang des Eisenbahnkorridors am Kochen halten. Mit bitterem Schweiß und ruinierter Gesundheit, und das für einen schäbigen Hungerlohn.

Francisco Gomes da Silva, der seit zehn Jahren Holz zu Kohle verschwelt, sieht aus wie ein alter, ausgemergelter Mann. Dabei zählt er gerade einmal 37 Jahre. Seine Großfamilie, fünf Erwachsene und neun Kinder, haust in einem Bretterverschlag am Rande des Dorfes Apixuna, wo sie sechs Meiler betreibt. Der Arbeitstag beginnt morgens um fünf und endet abends um sechs. „Um acht“, sagt Francisco, „schlafe ich todmüde ein.“ Seine Familie ist eine von vielen Hundert Zulieferern, die gezwungen ist, ihre Holzkohle an die COSIPAR zu verkaufen. Die Kompanie hält in der Region Marabá das Monopol.

Von dem Erlös, den die da Silvas mit ihren sechs Brennöfen erwirtschaften, bleibt nicht viel. Ein Viertel kassiert der Zwischenhändler, der das Holz von einem Sägewerk liefert. Der will auch das Gas für den Kochherd bezahlt haben und das Geld für die Lehmziegel, aus denen die Meiler gebaut werden. Zehn Prozent bekommt der Besitzer des Lastwagens für den Abtransport. Für die Familie bleiben Bohnen und Reis, morgens und abends. Der einzige Luxus, den sich die da Silvas gönnen, sind ein paar Liter Milch pro Tag, zu Preisen, die den Lebenshaltungskosten in der Bundesrepublik entsprechen. „Die Milch ist wichtig“, sagt Francisco, „für die Gesundheit Kinder.“

Er selbst hält seine Arbeit für nicht sonderlich gefährlich. „Ich bin doch viel draußen, an der frischen Luft.“ Ein tragischer Irrtum. In Paragominas starben vor einigen Jahren in nur vier Monaten 126 Säuglinge. 80 Prozent der Kinder litten unter Störungen der Atemwege. Die städtische Gesundheitsbehörde attestierte als Todesursache: „Intoxikation infolge des Rauchs aus 98 Sägewerken im Stadtgebiet und Hunderter Meiler zur Holzkohleerzeugung.“ Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Köhlers liegt bei 55 Jahren. Der feine Holzkohlenstaub setzt sich in der Lunge fest, die toxischen Verbrennungsgase, die das kokelnde Holz bei seiner Verschwelung zu Kohle freisetzt, führen zu einer schleichenden Vergiftung des Körpers. Francisco da Silvas Ehefrau Maria hat für die Tatsache, dass von ihren sieben Kindern zwei gleich nach der Geburt starben, nur die Erklärung. „Sie waren eben zu schwach.“

Bischof Dom José Vieira hat eine andere Erklärung. „Die Kinder sterben an verdreckter Luft, verseuchtem Wasser und an Würmern und Maden im Essen.“ In einer bitteren Anklage haben die katholischen Bischöfe Amazoniens schon vor Jahren „die Verbreiter des Todes“ angeprangert. Das sind jene, die für „pharaonische Projekte“ die „Wälder vernichten, die Flüsse vergiften, die Atmosphäre verseuchen und ganze Völker zugrunde richten.“ In ihrer von der bundesdeutschen Bischöflichen Aktion Adveniat publizierten Erklärung heißt es: „Millionen wertvoller Bäume stürzen jedes Jahr, Teile des Waldes werden abgeholzt um Hochöfen zu beheizen“, und das „im Namen eines Fortschritts, der Zerstörung, Elend und Tod bringt“.

Roheisen ist ein Energiefresser. Eine Tonne verschlingt 400 Quadratmeter Wald. Im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais hat der ökologische Kahlschlag für die Eisenschmelze zu einer derart hohen Entwaldungsrate geführt, dass viele der dortigen Köhler mangels Holz in die Carajás-Region abwandern. Doch auch dort wird das Holz knapp. „Als ich hier ankam“, so Silvestre Chopek, der in Morada Nova neben einem Sägewerk auch einige Meiler betreibt, „war hier noch alles Regenwald.“ Heute muss er die Baumriesen aus 150 Kilometern herankarren. 18 Sägewerke haben in der letzten Zeit allein im Bezirk Marabá dichtgemacht. Obschon statt der von den Projektplanern in den siebziger Jahren veranschlagten 25 Millionen Tonnen Holzkohle die Hochöfen zurzeit pro Jahr nur gut ein Zehntel verschlingen, wird der Brennstoff rar. „Für zwei, höchstens drei Jahre“, schätzt Silvestre, „wird das Holz noch reichen.“

Eine Wiederaufforstung mit schnell wachsenden Eukalyptusbäumen ist für die Hüttenwerke nicht lukrativ. Das Abfallholz aus den Sägewerken, das bei dem Primäreinschlag des Waldes und bei der Rodung für Weideflächen anfällt, ist billiger. Also wird weiter abgeholzt. Teures Holz aus Aufforstungen lässt die Preise für die Kohle steigen, und damit die Preise für das Roheisen. Denn von allen Zuschlägen beim Verhüttungsprozess wie Kalk, Quarzit und elektrischer Energie macht der Kostenanteil für die Holzkohle pro Tonne Eisen fast 48 Prozent aus. Da wird gespart, und zwar am letzten Glied in der Kette der industriellen Ausbeutung. Das bilden die Köhler und Tagelöhner. Sie zählen bei der Preisbildung für Roheisen auf dem Weltmarkt weniger als Produktionsfaktor denn als Störfaktor. Und den gilt es auszuschalten. „Vor zwei Jahren zahlte uns COSIPAR noch 15 Reais pro Kubikmeter“, erzählt Francisco da Silva, „dann waren es nur noch 13. Heute bekommen wir 11,5. Das reicht nicht mehr zu Leben.“