Was passiert mit Kindern in einem Land, in dem ein Viertel der Erwachsenen im Ausland arbeitet? Sie verwahrlosen, verletzen, verbrennen sich, weil niemand sie beaufsichtigt.
Andrea hatte sich gefreut. Auf ihre neuen Haare. Keine billigen Kunstfasern, echte Haare vielmehr, brünette mit einem Schimmer ins Rötliche. Mit voller Haarpracht würde sie wieder wie ein Mädchen ausschauen, könnte unbefangen das Haus verlassen, ohne ihr kahles Haupt mit einer Mütze zu verhüllen, die mehr schlecht als recht die Folgen des Feuers verbarg. Neue Haare nährten die Hoffnung auf ein wenig Selbstsicherheit. Mit einer Perücke würde Andrea den Anschein der Unversehrtheit wahren. Zumindest von Weitem, bevor die Leute, manche erschrocken, manche mitfühlend, die Narben in ihrem Gesicht anstarrten.
Doch Andrea kann sich mit ihrer Perücke nicht anfreunden. Einer Frau mag das Haarteil stehen, bei der Zehnjährigen wirkt es wie ein verstörender Fremdkörper. „Beim Sport in der Schule muss ich die Perücke immer festhalten“, erzählt die Viertklässlerin. „Damit sie nicht runterfällt und die anderen Kinder nicht lachen. Aber das stört mich nicht.“ Ihre Mutter schüttelt den Kopf. Aliona Ratsoi hat nicht vergessen, wie oft ihre Tochter nach Hause kam, weinend und allein. Weil niemand mit ihr spielen wollte, weil wieder der giftige Satz fiel: „Du bist hässlich.“
Es war ein kalter Tag im April 2008, als in dem moldawischen Dorf Izbeste das Unheil über die Familie Ratsoi hereinbrach. Andrea war damals vier. Ihr Vater Andrej befand sich auf Arbeitssuche, ohne Papiere unterwegs irgendwo in Westeuropa, ihre Mutter war außer Haus. Sie wähnte ihre Tochter in der Obhut der Großeltern, die wiederum glaubten, ihre Enkelin sei bei den Nachbarn. Aber Andrea spielte in einem abgestellten Schrottauto, in dem sie mit Stofftüchern eine Höhle für sich und ihre Puppen eingerichtet hatte. Um sich zu wärmen, entflammte sie ein Bündel Zündhölzer. Die Stoffe fingen Feuer, die Türen blockierten, das Auto wurde zur Falle.
„Das Unglück passierte, als ich glaubte, für meine Familie eine Zukunft zu schaffen“, sagt Andrej Ratsoi. Jahrelang hatte er sich als Wanderarbeiter verdingt. Zuerst in Russland. Als Maurer auf den Baustellen im boomenden Moskau hatte er jeden Rubel zur Seite gelegt, für ein bescheidenes Haus mit zwei Kinderzimmern und einem Garten. „Ein eigener Garten erleichtert das Überleben“, sagt Aliona. „Wer Lebensmittel anbaut, wird unabhängiger von teuren Einkäufen und steigenden Preisen.“ Jede freie Stunde verbringt die Hausfrau in den Gartenbeeten, pflanzt Kartoffeln, Gurken und Tomaten an, weckt Obst und Gemüse für den Winter ein, pflückt Weintrauben, füttert Schweine, Hasen und Hühner. Und wenn Andrea und ihr jüngerer Bruder Andreas morgens die Eier aus dem Stall holen, fällt ihr Blick auf die Tonne mit Regenwasser, die Andrea einst das Leben rettete. Als ihr Großvater die Schreie der Nachbarn hörte, das Mädchen aus dem brennenden Autowrack zerrte und geistesgegenwärtig in das Wasserfass steckte.
„Fünfundsechzig Prozent ihrer Haut waren mit Verbrennungen dritten und vierten Grades zerstört. Andrea rang mit dem Tod“, sagt der Arzt Gheorghe Vicol. In der Kinderklinik der moldawischen Hauptstadt Chisinau leitet er die Station II, die Abteilung für Verbrennungen und plastische Chirurgie. Jungen und Mädchen, die um ihr Überleben kämpfen, liegen auf der gekachelten Intensivstation, auf Gazenetzen unter wärmendem Rotlicht, von Kopf bis Fuß in Verbandmull gehüllt. Wie traurige Mumien dämmern sie vor sich hin, an Händen und Füßen an ihre Betten fixiert, um ihre Wunden nicht aufzukratzen. Sie leiden still. Manche wimmern leise. „Mama, Mama“ und „Apä, apä.“ Wasser, Wasser!
Auch Andrea lag hier. Monatelang. „Ich habe den Schmerz beim Anblick meines Kindes kaum ertragen“, sagt ihre Mutter. „Mir war, als hätte ich mein eigenes Leben verwirkt.“ Um Andreas äußere Narben, die Brandmale um Augen, Nase, Ohren, die schweren Gewebeschäden an Händen, Rücken und Kopfhaut sorgen sich die Chirurgen. Neunzehn Mal bereits wurde Andrea operiert. Mit der Scham beim Blick in den Spiegel jedoch bleibt das Mädchen allein. Und ihre Familie auch. Geboten wäre therapeutische Hilfe. „Aber dafür“, so Doktor Vicol, „hat der Staat kein Geld. Wenn ich im Gesundheitsministerium von den seelischen Belastungen spreche, wissen die Verantwortlichen nicht einmal, wovon ich rede. Sie glauben, mit ein paar kosmetischen Operationen sei das Problem der verbrannten Kinder vom Tisch.“
Über 2500 junge Patienten werden jedes Jahr auf Station II eingeliefert. Sie verbrühen sich mit kochendem Wasser aus Tauchsiedern und heißer Waschlauge, verbrennen sich an offenem Herdfeuer, an verpuffendem Gas aus undichten Öfen oder defekten Kabeln billiger Elektrogeräte. „Immer werden Feuer, Strom und heißes Wasser als Ursache für die Unfälle genannt“, beklagt Silvia Muntean, „aber das stimmt nicht. Die Kinder sind Opfer mangelnder Fürsorge.“ Zehntausende verletzter Jungen und Mädchen hat die Oberschwester in ihren vierzig Dienstjahren gesehen. „An den meisten Unfällen tragen die Eltern Schuld. Sie kümmern sich nicht um ihre Kinder. Wie sollen sie auch, wenn sie gar nicht da sind.“
Knapp eine Million Moldawier haben ihr Land verlassen. Jeder vierte Erwachsene. „Als die sozialistischen Landkolchosen anfangs der neunziger Jahre daniederlagen, suchten fast alle Männer aus unserem Dorf Arbeit im Ausland“, erzählt Andrej Ratsoi. Er selbst fuhr nach Andreas Unfall nur noch sporadisch nach Italien. Aus Sorge um die Familie. Heute ist er hin- und hergerissen. Gehen oder bleiben? „Für 250 Euro im Monat würde ich hier jeden Job annehmen, aber es gibt einfach keine Arbeit.“ Doch der finanzielle Druck wächst. Die ständigen Fahrten in die Kinderklinik haben die Familie in Not gebracht. Wegen der dramatisch gestiegenen Strompreise wäscht Aliona wieder mit der Hand statt mit der Maschine, und anstatt mit teurem Gas wird seit dem letzten Winter mit Holz geheizt und gekocht. Umso verlockender erscheint die Europäische Union, zumal die Tore Richtung Westen heute offenstehen. Ohne jede Einschränkung. Der Grund: Moldawien gehörte einst zu Rumänien und wurde während des Zweiten Weltkrieges von der Sowjetunion annektiert. In den letzten Jahren stellte die rumänische Regierung Hunderttausenden Pässe aus, die rumänischstämmige Moldawier wie die Familie Ratsoi als EU-Bürger ausweist. „Stimmt es“, fragt Andrej, „dass in Deutschland gute Arbeiter gesucht werden?“
In Moldawien selbst zeitigt die Auswanderung verheerende Folgen. Denn dem Staat laufen nicht nur die Bürger davon, Väter und Mütter lassen auch ihre Kinder allein. 250.000 sogenannte Eurowaisen haben sie in ihrer Heimat hinterlassen. Viele bleiben zurück in der Obhut von Nachbarn oder Großeltern, die mit der Aufsicht völlig überfordert sind.
Beim Schrubben der Küche hatte die alte Fedora einen Putzeimer mit heißem Wasser mit einem Lappen abgedeckt. Ihre Enkelin Xenia setzte sich darauf und verbrühte sich den Unterleib. Wochen noch wird die Dreijährige auf Station II verbringen. Fedora ist verbittert: „Vor achtzehn Monaten ging Xenias Mutter zum Geldverdienen nach Europa. Danach ließ sie nichts mehr von sich hören.“ Zwei Betten weiter liegt Luminitza. Die Achtjährige kokelte mit Plastik und erlitt schwere Verbrennungen der Brust. Der Kunststoff stammte von der Verpackung eines Fernsehers, den ihr die Eltern aus Italien geschickt hatten. Zum Geburtstag. Auf die Frage, wann Vater und Mutter sie im Krankenhaus besucht haben, antwortet Luminitza: „Noch nie.“
„Was wir in Moldawien erleben, ist eine soziale Katastrophe. Eine ganze Generation von Kindern wird im Stich gelassen“, sagt Mariana Socinschi. Die Psychologin hat Verständnis für die Sehnsucht nach Arbeit und Wohlstand. „Aber nicht um den Preis, dass wir menschlich verkümmern“. Als Therapeutin ist die 46-Jährige mit den Schattenseiten der Emigration konfrontiert, die fatale Konsequenzen hat: „Immer mehr Kinder werden geboren, die niemand will.“
Mädchen, die ihre Eltern seit Jahren bestenfalls noch per Handy und Skype erleben, werden heute selber Mutter. „Viele sind Teenager und zum Muttersein nicht fähig, weil ihnen jedes Vorbild fehlt“, so Marianas Erfahrung. „Sie erleben unglückliche Schwangerschaften, werden verprügelt und verlassen, sie rauchen, trinken und haben kein Gespür für sich selbst und das Kind, das in ihnen heranwächst.“ Junge Frauen, deren Männer in Europa arbeiten, leiden unter der Trennung, beginnen neue Liebschaften, aus denen Kinder hervorgehen, die künftig in staatlichen Heimen aufwachsen werden. „Aus Furcht vor Ehemännern und Eltern“, so Mariana, „verbergen die Frauen ihre Schwangerschaft und lassen die ungewollten Babies nach der Geburt im Krankenhaus zurück. Meine Aufgabe sehe ich darin, wenigstens einige Mütter als gute Freundin zu begleiten und mit ihnen einen Weg zu finden, sich selber und ihre Kinder anzunehmen.“
Neuerdings besucht Mariana auch die der Kinderklinik, wo sie sich mit einem kleinen Team von Psychologiestudentinnen auf Station II um die traumatisierten kleinen Patienten kümmert. Und um die Mütter, die an der Last der Schuld an den Brandunfällen ihrer Kinder verzweifeln. „Inmitten von Existenzsorgen und Überforderung reicht eine Sekunde der Unachtsamkeit, um lebenslange Tragödien auszulösen“, weiß Mariana. „Jeden Tag sehen sie die Behinderungen ihrer Kinder, unfähig sich selbst zu verzeihen, das Unglück nicht verhindert zu haben.“ Zumal ihre Schuldgefühle häufig geschürt werden. Von Vätern und Schwiegereltern, die die Frauen nicht selten mit Schimpf und Schande davonjagen. „In unserer Kultur ist stets die Mutter schuld“, meint die Psychologin. „Würde sie ihr Kind lieben, so das gängige Denken, dann hätte sie besser aufgepasst. Solche Vorwürfe stürzen die Frauen in emotionale Abgründe, an denen die Ehen scheitern und die Familien zerbrechen.“
Aber nicht immer. Andreas Unglück hat die Familie Ratsoi nicht zerstört, sondern gestärkt. „Als ich Andrea leiden sah, wollte ich sterben“, sagt Aliona. Aber die Sorge um ihr Kind war stärker, zumal ihr Mann Andrej sofort aus Italien zurückkehrte und ihr zur Seite stand. Vor allem aber, weil nie ein Wort des Vorwurfs fiel.
Noch liegt ein weiter Weg vor Andrea. Viele Operationen stehen ihr noch bevor, in der Pubertät, wenn das vernarbte Hautgewebe dem Wachstum angepasst werden muss. Auf ihren Herzenswunsch wird die Zehnjährige zudem verzichten müssen. Echte Haare, „die schön aussehen und beim Laufen nicht herunterfallen“, übersteigen die Mittel der Familie Ratsoi. Doch auch ohne Perücke, Aliona freut sich über Andreas Entwicklung: „Sie geht auf Menschen zu, findet Freundinnen und lernt immer mehr, sich für ihre Narben nicht zu schämen.“
„Andreas Lebenswille ist erstaunlich“, bestätigt der Chirurg Doktor Vicol. Er erinnert sich gut an ihre Familie. Als eine Ausnahme. „Der Vater, die Mutter und der jüngere Bruder haben Andrea immer besucht. Jeden Tag kamen sie mit dem Bus. Stundenlang saßen sie an ihrem Bett. Ohne die Liebe ihrer Familie hätte das Mädchen wohl nicht überlebt.“
Erschienen in: Brigitte, Heft 17/2014