Die Gewalt verbirgt sich.
Und nichts läßt darauf schließen, dass in der Calle caliente, der „heißen Straße“, gleich das Blut kochen wird. Sandra, Leidy und Paola fletzen sich auf bunten Plastikstühlen und schlagen die Zeit tot. La Garda, selber noch ein Kind und seit ihrer Schwangerschaft „die Dicke“ gerufen, albert mit ihrem Töchterchen Gloria herum. Die zierliche Michele, genannt Papa, „die Kartoffel“, stiert auf eine üble Schnittwunde an ihrem Handgelenk und behauptet, sie sei zufällig in eine Glasscherbe gefallen, während der Kurze, El Nino der Bandenclown, seine Späßchen macht. Yeiffers Finger flitzen über die Tastatur seines Game-boys und killen quäkende Monster; Plinio, Poncho und Wallo hängen gelangweilt herum. Wallo hat gerade zwei Jahre Besserungsanstalt hinter sich und soll, wie man hört, ruhiger geworden sein. Weniger aggressiv. Auf Ausgleich bedacht, wenn Ärger ansteht. Vielleicht ist der Fünfzehnjährige tatsächlich klüger geworden, vielleicht aber auch nur schlauer; ein cleverer Typ, der gelernt hat, mit schuldbewussten Einsichten bei Erziehern und Psychologen ein verständnisvolles Kopfnicken hervorzurufen.
Dann taucht ein junger Bursche auf. Allein. Hilton soll er heißen, in der „Kalten Strasse“ wohnen. Er wirkt durchtrainiert, beherrscht. Und mutig. Hilton baut sich vor der Bande auf, zeigt mit dem Finger auf den Pandillero im weißen T-Shirt, beschuldigt Poncho: „Du! Du hast meinem Bruder Geld gestohlen. Gib es wieder her.“ Poncho schaltet sofort auf Angriff: „Du spinnst! Ich war das nicht. Zisch ab, Hurensohn.“ – „Lüg nicht! Ich weiß, dass du es warst. Ich warne dich, pass bloß auf.“ Hilton dreht ab. Die Situation scheint bereinigt. Dann blitzen Macheten auf. Wie aus dem Nichts. Hilton schlägt zu. Die Mädchen kreischen, die Jungen jagen los, hetzen den Herausforderer. Aber Hilton ist schnell, rennt um sein Leben, entkommt im Gewirr der Bretterhütten. Doch das Blut im Staub der Straße verrät, es hat ihn erwischt.
Still wird es in der Calle caliente. Der beschuldigte Poncho steht abseits. Niemand aus seiner Pandilla bekommt mit, dass er teilnahmslos in die Gegend stiert. Etwas stimmt nicht mit ihm. „Komm mit“, sagt der Sozialarbeiter Tomás, „ich fahr dich nach Hause. Da bist du sicher.“ Thomas Hofmann startet seine Honda. Apathisch kauert Poncho auf dem Sozius. Dann wird offensichtlich: der 14-Jährige steht unter Schock. Ein Machetenhieb zwischen die Schulterblätter hat eine klaffende Wunde hinterlassen, zwanzig Zentimeter lang, knapp neben der Wirbelsäule. Thomas Hofmann bringt den Verletzten in das ambulante Missionshospital im Barrio La Victoria. Krankenschwester Leila kennt sich mit Hieb- und Stichwunden aus. „Hätte schlimmer kommen können“, meint sie. Sie sagt das, um den verstörten Poncho zu beruhigen.
Die nächsten Tage meiden die Pandilleros ihr Revier im Norden der kolumbianischen Stadt Quibdó. Poncho verkriecht sich. „Angst vor diesem Hilton? Nein, habe ich nicht.“ Sein Gesicht verrät etwas anderes. Poncho weiß: er hat Glück gehabt. Aber er weiß nicht, wie lange dieses Glück währt und ob sein Widersacher noch einmal zurückkehren wird. Womöglich nicht allein. Und nicht nur mit einer Machete als Waffe. Und das wegen eines Diebstahls von 5000 kolumbianischen Pesos, umgerechnet 1,70 Euro. „Manchmal reicht schon der Streit um ein Stück Brot, und die Kids explodieren“, sagt Thomas Hofmann. „Sie sind freundlich zu denen, die ihnen wohlwollend begegnen. Aber wehe wenn nicht, dann gehen sie hoch. Von Null auf Hundert. Dazwischen gibt es nichts. Konflikte auf friedliche Weise zu lösen, das haben sie nie gelernt. Wo auch? Und wie auch?“
Früher kümmerte sich der Sozialarbeiter in Kassel um Minderjährige im Drogenmilieu, seit fünf Jahren arbeitet er als Streetworker in Kolumbien, zu lange, um über die Gewaltausbrüche der Jugendlichen noch schockiert zu sein. „Man gewöhnt sich an das Blutvergießen. Es gehört zum Alltag.“ Doch da spricht kein Zyniker, kein abgestumpfter Pädagoge, der halbherzig seinen Job macht. Der 57-Jährige ist ein Idealist, der von morgens bis nachts auf seinem Motorrad als ziviler Friedensdienstler durch Quibdós Armenviertel brettert. In den Barrios ist er der verrückte Deutsche, der für jene Kinder und Jugendlichen da ist, die andere längst aufgegeben haben.
Hofmann kennt die zerstörende Macht, die ungebremste Wut, die in Kindern heranwächst, die niemand braucht und niemand will. Er weiß, wie Gesichter aussehen, wenn Vierzehnjährige Backpfeifen verteilen, mit Rasierklingen zwischen den Fingern. Doch wer fragt schon nach dem kaputten Leben von Chombo, dem die jahrelange Klebstoffschnüffelei den Verstand geraubt hat? Wer sorgt sich um Paola, die nicht kapieren will, dass ihr Freund, der sie auf den Strich schickt, ihr die Augen blau schlägt und ihr ein Messer in die Schenkel rammt, kein Freund ist, sondern ein Mistkerl, auch wenn er ihr heulend ewige Treue schwört? Wen interessieren die Halbwüchsigen aus San Vicente, die mittags um zwölf „frühstücken gehen“, was heißt, das sie sich den Kopf mit Marihuana zudröhnen? Für den deutschen Sozialarbeiter ist es jedoch schon ein Erfolg, wenn seine Schützlinge kein Bazuco rauchen, ein verheerendes Teufelszeug, das „die Süchtigen wie Zombies durch die Straßen torkeln läßt“.
Halt und Geborgenheit, wenn überhaupt, bietet die Pandilla. Die Banden nennen sich Carritos, Dreslows oder DULL, was für Duros, Unidos, leales und libres steht, „die Harten und Vereinten, treu und frei“. Die lokale Presse dagegen spricht von Abschaum, von den „desechable“, den Wegwerfmenschen. Die Bewohner der Barrios schimpfen sie „los inutil“, die Unnützen, die stehlen, rauben, erpressen, verletzen und manchmal auch töten. Immer wieder wetterte ein Kioskbesitzer aus der Kalten Straße über die „rateros“, die Ratten, die es auszurotten gelte. Bis ihn Unbekannte im Oktober 2007 erschossen.
„Einige Jugendliche sind knallhart. Die werden auch im Gefängnis nicht weich“, sagt Tomás. „Aber mit den anderen Jungen und Mädchen kann man arbeiten. Als Freund, der an ihrer Seite steht, wenn sie sich in dem irrsinnigen Kreislauf der Gewalt verstrickt haben.“ 47 Mordfälle hat Hofmann bislang in Quibdó gezählt. Die meisten jedoch wurden nicht von, sondern an den Jugendlichen verübt. Die „Maßmaßen zur sozialen Säuberung“ gehen auf das Konto von Autodefensas. Oft heuern belästigte Geschäftsleute selbsternannte Schutztruppen an, professionelle Killer im Einsatz gegen Ladendiebe und Kleinkriminelle. „Wir kiffen und bauen auch schon mal Mist“, sagt Bandenmitglied Walter, „aber die Männer in den Toyotas hinter den getönten Scheiben, die sind wirklich gefährlich.“
La maldita violencia. Jeder beklagt sie, und doch liegt sie wie ein düsterer Schatten auf Kolumbien. Die Hauptursache trägt ein schwelender Bürgerkrieg, den seit den sechziger Jahren eine Viertelmillion Menschen mit ihrem Leben bezahlten. Drei Millionen Vertriebene waren oder sind noch immer auf der Flucht. Besonders betroffen sind die Afrokolumbianer, die Nachfahren ehemaliger Sklaven, die im Chocó, der feuchten tropischen Urwaldregion am Atrato-Fluss leben. Fast zwanzig Prozent der 100.000-Einwohner-Stadt Quibdó sind Desplazados, Kriegsflüchtige, die der Terror aus ihren Dörfern verjagt hat.
Die schwer zugänglichen Urwaldsiedlungen an den Nebenflüssen des Atrato dienen der FARC, den Rebellen der „Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens“, als strategisches Rückzugsgebiet. Mit dem Anspruch angetreten für die Interessen der ausgebeuteten Kleinbauern zu kämpfen sind die Guerilleros zu marodierenden Kriegern verkommen, die ihre Einflusszonen mit Mord, Drogengeld und Geiselnahmen zu sichern versuchen. Täglich werden Entführungen von Unbeteiligten vermeldet, um Lösegelder zu kassieren und Gefolgsleute freizupressen. Doch erst mit dem Einmarsch paramilitärischer Söldnertruppen Mitte in den Neunzigern eskalierte der Krieg im Chocó. Finanziert von Industriellen, Großgrundbesitzern und Drogenbaronen und toleriert vom staatlichen Militär entpuppten sich die Privatarmeen als gefürchtete Todesschwadrone. „Sie tauchten auf mit obskuren Namenslisten, bezichtigten einfache Bauern der Kooperation mit den Rebellen und ermordeten Hunderte von Campesinos“, beklagt Ulrich Kollwitz, Priester und Menschenrechtler im Dienst der Diözese Quibdó. „Dabei sind die schwarzen Landarbeiter ausgesprochen friedliche Leute, die nichts mit dem Krieg zu tun haben wollen. Die Gewalt wurde in den Chocó hineingetragen.“ Den Blutzoll der Machtkämpfe zwischen Paras, Guerilla und kolumbianischem Militär um die Kontrolle der Dörfer zahlt die Zivilbevölkerung. Für den mörderischen Wahn stehen der Name Bellavista und der 2. Mai 2002.
Ungehindert von der Staatsarmee waren Hunderte paramilitärischer Söldner in das Dorf vorgedrungen und lieferten sich schwere Gefechte mit der FARC. 300 Zivilisten, zumeist Frauen und Kinder, suchten Schutz in der örtlichen Pfarrkirche. „Ich überlebte, weil ich Zuhause bei meiner Tochter blieb, die von einer Gewehrkugel verletzt war“, erzählt Rosa Hurtado. Neben Rosas Haus hatten die Guerillas ihren Gefechtsstand, während sich die Paramilitärs um die Kirche verschanzten und die Menschen als Schutzschilde missbrauchten. „Immer wieder habe ich die Rebellen angefleht, ihre Bomben nicht in Richtung Kirche zu schießen. Doch die meinten nur, da verstecken sich die Chulos, die Aasfresser“. Unbeirrt feuern die Guerilleros mit Sprengstoff gefüllte Gasflaschen ab. Gegen zehn Uhr vormittags durchschlägt eine Bombe das Kirchendach.
Ursula Holzapfel ist wenig später vor Ort. Die gebürtige Saarländerin, die sich wie Ulrich Kollwitz in der Kommission für Leben, Gerechtigkeit und Frieden in der Diözese Quibdó engagiert, hat in Kolumbien schon viel gesehen. Als Menschenrechtlerin hat sie Massaker dokumentiert, Leichen eingesammelt, Tote identifiziert. „Aber das Grauen in der Kirche von Bellavista werde ich niemals vergessen. Überall zerfetzte Leiber, Leichenteile, Blut, schreiende Frauen, weinende Kinder. Und dieser grässliche Gestank der Verwesung. Während wir die Köpfe und Rümpfe sortierten, um die Toten zu zählen, flog die staatliche Armee Luftangriffe gegen die FARC zum Schutz der Paramilitärs. Es war entsetzlich.“ 89 Unschuldige kostete der Angriff das Leben, hundert Menschen wurden schwer verletzt. Wer überlebte, floh. „Mein Sohn Hason war damals fünf Jahre alt“, sagt Giguiola Moreno, „er redet und träumt noch immer von dem, was er in der Kirche gesehen hat.“ Giguiola selbst brachte wenige Tage nach dem Massaker ein totes Baby zur Welt.
Giguiola, Rosa, Miriam, Luz oder Rubiella, sie alle hat der Krieg in Abgründe gestürzt; Witwen, Ehefrauen und Mütter, denen Ursula Holzapfel einen Ort bietet für das Leben nach der Flucht. In Gruppen wie Pan da cada dia, „Unser tägliches Brot“ lernen sie, das quälende Verstummen zu überwinden. „Lange Zeit haben es die Frauen vermieden über ihre Erlebnisse zu sprechen“, erzählt die Pastoralreferentin. „Vertrauen fanden sie über die gemeinsame Arbeit.“ Die wirtschaftliche Not in den Flüchtlingslagern zwang die Mütter, sich neue Einkommensquellen zu erschließen. Weil ihre Kinder kein Spielzeug besaßen, bastelten sie Puppen. Heute verkaufen sie ihre Handarbeiten in einem eigenen Lädchen, nähen Messgewänder und Stolen und verdienen sich etwas Geld mit ihrer Hostienbäckerei. Trotzdem: „Ich werde den Schmerz nicht los. In der Stadt bleibe ich eine Vertriebene.“ Rosa Hurtado, die in der Kirche von Bellavista ihre Mutter und ihren Sohn Ilson verlor, spricht für alle Desplazados. Die Gewalt zerstört nicht nur ihre Familien, sondern auch das traditionelle Dorfleben der Bauern und Fischer. Und damit Werte wie Gastfreundschaft, Respekt vor den Alten und Fürsorge für Witwen und Waisen. „In den Flüchtlingssiedlungen kämpft jeder für sich“, so der Priester Ulrich Kollwitz, „umso wichtiger ist es, den Vertriebenen mit unserer Friedensarbeit die Rückkehr in ihre Dörfer zu ermöglichen.“
„Die Stadt ist öde“, meint der Flüchtlingsjunge Jorge. „Wenn man keine Pesos hat, hockt man den ganzen Tag blöd rum. Ich bin froh, wenn wir wieder in unserem Dorf sind. Da braucht man kein Geld.“ Auch der elfjährige Anderson fiebert der Rückkehr in seine Heimat entgegen. „Gut im Lager war, dass wir den ganzen Tag Fußball gespielt haben. Aber wenn wir abends Durst hatten und die Leute um ein Glas Wasser baten, haben sie uns nichts gegeben. Das würde in unserem Dorf nie passieren.“ Jorge und Anderson zählen zu den 750 Bewohnern, die im November 2007 aus Tanguí geflohen sind, nachdem die Guerilla drei Männer ermordete und wahllos Leute entführte. Nun warten die Dörfler am Hafen von Quibdó auf die motorisierten Einbäume, die sie nach Tanguí zurückbringen. „Ob es dort künftig sicher ist, kann man nie wissen“, sagt Doris Rodriguez. „Aber wir vertrauen auf Gott.“
Vor ihrer Abreise haben alle Familien eine Vereinbarung unterzeichnet. Vielleicht stärkt die Erklärung den sozialen Zusammenhalt der dörflichen Gemeinschaft, gewiss wird sie das Leben in Tanguí verändern. Verboten ist nun: Kinder nach 20 Uhr aus dem Haus lassen, Fremden Informationen über die Bewohner zu geben oder Gerüchte zu verbreiten. Wer sich mit bewaffneten Gruppen einlässt, wird des Dorfes verwiesen. Als die Boote nach zweistündiger Fahrt in Tanguí anlegen, strotzt das Dorf vor Waffen. Militärs der Staatsarmee haben sich einquartiert. Offiziell dienen sie dem Schutz der Rückkehrer, zugleich jedoch zeugen sie von der extremen Militarisierung Kolumbiens. Die stete Aufrüstung von Armee und Polizei ist die Strategie der harten Hand, mit der Präsident Alvaro Uribe die Gewalt einzudämmen versucht. Die Menschen am Atrato indes machen keinen Hehl daraus, dass sie einfach nur frei und autonom leben wollen, ohne Rebellen, ohne Söldner, ohne Soldaten. „Führt euren Krieg woanders“, ist immer wieder zu hören. Auch in der Diözese Quibdó ist man entschieden gegen die Vermischung von Militär und Zivilbevölkerung. „Wir sind keine Gegner der Soldaten“, betont Ulrich Kollwitz, „aber wenn wir es zulassen, stehen die Uniformierten beim Gottesdienst mit ihren Maschinengewehren am Altar. Das wollen wir nicht.“
La maldita violencia. Für die Gläubigen in der Pfarrei Egipto in Bogotá ist die verfluchte Gewalt ein Werk des diablo, des Teufels. Und den jagen sie in die Luft. Jedes Jahr am 6. Januar, zum Dreikönigsfest. Dann explodiert mit einem ohrenbetäubenden Feuerwerk und unter ekstatischem Jubel nicht bloß eine Figur aus Pappmachée, sondern ein Übel der kolumbianischen Gesellschaft. Jedes Jahr ein anderes. „Die Gemeinde setzt damit ein Zeichen“, sagt Pfarrer Rafael Rios. „2008 haben wir gegen die Entführungen und Geiselnahmen demonstriert, davor gegen Egoismus, gegen Arbeitslosigkeit und Gleichgültigkeit.“
„Bogotá sin indifferencia.“ In keiner südamerikanischen Großstadt haben die leidenschaftlichen Appelle gegen Lethargie und Gleichmut die Einwohner so wachgerüttelt wie in Kolumbiens 8-Millionen-Hauptstadt. In wenigen Jahren wurde aus dem verdreckten und gefährlichen Moloch eine saubere, halbwegs sichere und lebenswerte Metropole. Viel wurde investiert. In den Barrios entstanden neue Schulen, Volksküchen verteilen kostenlose Mahlzeiten, und das Verkehrssystem Transmilenio sorgt für die Anbindung der Armenviertel an das Zentrum, dorthin, wo Arbeit zu finden ist. Dennoch durchzieht die Stadt eine Grenze. Die endlosen Häusermeere in Soacha, Bosa und Kennedy und die Barrios der Desplazados im Süden trennen Welten von den luxuriösen Appartementvierteln mit dem bewaffneten Security-Personal im wohlhabenden Norden. Für Pfarrer Rafael markiert die Circunvalar, eine vielbefahrene Durchgangsstraße, die Grenze zwischen arm und reich. „Unterhalb der leben die Bürgerlichen, oberhalb die Diebe, die Räuber, die Arbeitslosen.“ Seine Drei-Königs-Gemeinde in Egipto liegt oberhalb der Grenze.
Zur Fiesta am 6. Januar jedoch verschwinden die Unterschiede. Tausende strömen herbei, wenn die Kinder aus Egipto auf dem Kirchplatz ein Krippenspiel aufführen. Das biblische Drama ist sehenswert. Dem Publikum stockt der Atem, wenn König Herodes auftritt und seinen Schergen den Raub der Kinder und die Ermordung der Erstgeborenen befiehlt. „Die Mütter erkennen sich in der Szene wieder. Sie wissen, was es heißt, ihre Kinder durch Gewalt und Drogen zu verlieren“, meint die Schauspiellehrerin Olga Montanez, deren Erfahrung und Leidenschaft für die Kinder ein enormer Gewinn ist. „Es ist wunderbar, wie sehr Tanz, Artistik und Gesang das Selbstwertgefühl der Kinder steigern.“ Die bekennende Katholikin und Theaterpädagogin versteht ihre Arbeit als Beitrag „gegen die Hoffnungslosigkeit von Jungen und Mädchen, die sich überflüssig vorkommen. Das Theater macht die Kinder wacher und feinfühliger gegenüber sich selbst und der Gemeinschaft. Sie erfahren, dass sie nicht wertlos sind.“ So wie Tatjana. Die 16-Jährige spielt die Jesusmutter und ihr ist klar, dass sie nur bedingt jenem Bild entspricht, dass man gemeinhin von der Jungfrau Maria hat. „Zwei Mal bin ich von der Schule geflogen und auch sonst gab´s reichlich Ärger. Aber Maria zu sein ist toll. Ich habe alle Proben durchgehalten, und jetzt werde ich versuchen auch die Schule zu beenden.“
„Man braucht einen langen Atmen“, sagt Thomas Hofmann. Dass er die Ratten, die Wegwerfmenschen, nicht ihrem Schicksal überlässt, dass er zu ihnen steht, hat man dem Sozialarbeiter aus Quibdó schon oft vorgeworfen. „Es gibt immer Typen, die glauben, soziale Probleme ließen sich mit Knast und Knarre lösen. Aber man darf nicht vergessen, die Pandilleros sind Kinder. Für sie da sein, sie begleiten und wissen, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, ihnen zu helfen ihr Leben zu ändern, mehr kann ich nicht tun.“
Jahre hat es gebraucht, bis das Bandenmädchen Sandra endlich den Satz ausspricht: „Tomás, ich will lernen.“ Hofmann schwingt sich auf sein Motorrad und sucht den Leiter der Schule an der Calle Caliente auf. Sandra erhält ihre Chance, ausgerechnet in jener Schule, die eine mächtige Mauer umgibt, weil Pandilleros bei ihren nächtlichen Einbrüchen immer wieder alles geklaut haben, was sich zu Geld machen lässt. Jahre hat es gedauert, bis Porito endlich die Nase voll hat, von der Gewalt, von den Drogen, vom Leben ohne Pespektive. „Ich muss hier weg“, sagt er und bittet Tomás um ein Gespräch mit seiner Mutter. Ruhig hört sie dem Deutschen zu und nickt. „Es ist das Beste für ihn“, sagt sie und erklärt in Einverständnis. Thomas Hofmann wird ihrem Sohn Porito einen Platz in einem guten Erziehungsinternat besorgen. „Einige Freunde sind tot, andere sind im Gefängnis“, meint der Sechzehnjährige. „So will ich nicht enden. Aber ich brauche Hilfe. Allein schaffe ich es nicht.“
Erschienen in: Christ in der Gegenwart, Januar 2011