Kohlenschlepper in der DDR

DDR_Sackneger

„Leberwerte okay“

 Sie heißen Rommel, Diesel und Don Krawallo. Dessen Mundwerk ist mindestens so voluminös wie das Trinkvermögen von Don Pro­millo. Da hält selbst Silberlocke nicht mit, und auch nicht At­tila der Hundekönig. Vielleicht Rommel, der könnte konkurrie­ren, würde er nach allzu vielen Gläsern nicht immer in der Ge­gend rumballern und Krieg spielen. Friedlicher ist der Postmi­nister. Er verdankt seinen Ruf der Marotte grundsätzlich nur mit Schirmmütze und in Uniform zur Arbeit anzutreten. Und der ewig hungrige Junggeselle, der den Kollegen regelmäßig das Früh­stücksbrot wegputzt, weil keine Frau ihm die Stullen schmiert? Der wird Alf gerufen. Einzig Ledermann, der braucht keinen Spitznamen. Der heißt wirklich so.

Sie alle hatten schwer zu tragen im Arbeiter- und Bauern­staat. Vierzig Jahre haben sie gebuckelt, für Frieden, Frei­heit, Sozialismus, für ein paar Ostmark, ein bisschen Trinkgeld, ein paar krumme Geschäfte nebenher und für die Erkenntnis, dass Arbeit nicht unbedingt adelt und auch in der Deutschen Demokratischen Republik nicht alle gleich gemacht hat. Das „Ehrenbanner“ wurde für keinen von ihnen gehisst. Und den in Funktionärskreisen so begehrten Proletarierorden „Held der Arbeit“ gab es auch nicht. Derlei höhere Weihen saßen nicht drin bei der Maloche von Don Krawallo & Co.

Auch im vereinten Deutschland werden sie sich krumm legen, werden, wie es heißt, „unterm Sack gehen“. Solange, wie sie gebraucht werden. Solange, wie Braunkohle verfeuert wird. Vielleicht noch drei, fünf, höchstens zehn Jahre. Dann sind die Kohlenkerle verschwunden aus den Straßen von Magdeburg und Dresden, von Bautzen und Wismar. Dann wird aus dem Sprachschatz ein Wort gestrichen, das recht nah an den Realitäten eines Kohlenschleppers dran ist. Ganz im Gegensatz zum Jargon steifer Schreibtischplaner. Was für den Bürokraten ein „Transportar­beiter mit Abtragetätigkeit“, das ist für den weniger gestelz­ten Volksmund ein „Sackneger“.

Werktags, jeden Morgen um fünf steht Peter Wolf auf dem Koh­lenplatz Dresden-Nord, watet durch knöcheltiefen Kohlenstaub rüber zu seinem Multicar 22, Baujahr 1966. Bei Schmuddelwetter schwappt ihm der Kohlengrus als schwarzer Morast in die Schuhe. Dann steht ihm und den neunzig Arbeitern vom Kohlenhandel die nachparadiesische Weissagung bevor, dass die Plackerei ums tägliche Brot im Schweiße des Angesichts getan sein will. Wolf und seine Kollegen fahren für die heutige GmbH und den einst volkseigenen Betrieb Kohlenhandel Dresden Nord „die Kohle breit“.

Seit einem Vierteljahrhundert brettert Wolf mit einem schrottreifen Multicar durch die engen Gassen von Dresdens verrotteter Neustadt. Stets am Rande des Achsenbruchs bringt er 200 bis 250 Säcke pro Tag unters Volk, von montags bis samstags. „Zäh musst du sein“, sagt er. „Besonders die erste Zeit. Nach acht Tagen reiben dir Säcke, Schweiß und Dreck den Rücken wund. Alle Knochen tun dir weh, doch nach vier Wochen geht das vorbei.“ Bei vielen jedoch hielt sich die Lust an der Last in Grenzen. Wolf: „Die warfen schon nach zwei Schichten das Handtuch und stöhnten: ‚Ich bin doch nicht bekloppt.'“

Dem 57-jährigen Hans-Jürgen Kastulsky schwillt noch heute die Brust, wenn er an seine Glanzzeiten als Kohlenträger denkt. „Jumbo der Berge“ haben ihm seine Kollegen früher mal mit weißer Farbe an seinen LKW Typ „W 50“ gepinselt. Heute werkelt er mit dem Besen in der Hand an der Dresdner Abfüllrampe. Wenn die Zugladungen aus dem Braunkohletagebau Senftenberg anrollen, muss Kastulsky ran. Dann kriecht er in die Waggons der Deutschen Bahn, muss Staub schlucken und die Briketts aus den Ecken kratzen, wo die Greiferarme der Entladekräne nicht hinkommen.

„Ja aber früher“, schwelgt der einstige Jumbo, „da hab ich´s allen gezeigt. Vier Kraftfahrer hab ich platt gemacht und das mit meinen kurzen Beinen.“ Die kamen nicht mit, wenn der Klein­wüchsige die Loschwitzer Berge raufackerte, einem Dresdener Stadtteil der Kategorie: Erschwernisgebiet. Dreizehn Jahre ging Kastulsky hier unterm Sack. „Schlepp mal fünfzig Zentner über die 193 Treppenstufen hoch zum Oberwachwitzer Weg“, sagt er. Und die Gesundheit? Gelenke, Wirbelsäule, Lunge? Jumbos knappe Antwort: „Leberwerte okay.“

Was Altwachwitz in Dresden, das sind die Stadtteile Sudenburg und Zumbusch in Magdeburg, der Alptraum jedes Kohlenschleppers: feuchte Keller, verfaulte Holztreppen, endlose, eben mal brust­hohe Gänge. In den düsteren Kellerlabyrinthen von Sudenburg verlieren sich die Abträger. „Dann stellen die Leute ein Dut­zend Kerzen auf, damit man nicht wie ein Blinder herumtapst. Wer dahin muss, das is´ne Strafe“, sagt Herbert Übe, der beim Kohlenhandel Magdeburg an der Magistratsstrecke immer dann Chef ist, wenn die echte Chefin – Betriebsführerin und Ehefrau in einem – in Verhandlungssachen mit westlichen Geschäftspart­nern auf Achse ist.

Herbert Übe erzählt, was alle erzählen, die zwar keine Säcke, dafür aber Verantwortung tragen. „Betriebsergebnis hervorragend. Die anderen Betriebe arbeiteten unter Plan, brachten 50 bis 60 Prozent. Unser Plan wurde 1989 zu 150 Prozent erfüllt.“ Bei 46.000 Tonnen Umschlagkapazität lag das Plansoll. 156.000 Ton­nen Braunkohle brachten die Abträger im letzten Jahr in Haus­halte und Betriebe, erzählt Übe. Aber das sind über 300 Prozent mehr! „Mit Zahlen“, sagt der stellvertretende Betriebsleiter, „da fragen sie lieber meine Frau. Die kennt sich da besser aus.“

Aus den gigantischen Löchern der ökologischen Katastrophengebiete bei Cottbus, Halle und Leipzig buddeln die Schaufelradbagger jene obskure Mischung aus Sand und Holz, die als Braunkohle in den Kaminen verheizt wird. Energiearme Briketts, Marke „Rekord“. „Vor ein paar Jahren waren die Briketts noch hart wie Pfla­stersteine. Heute fahren wir Zwiebäcke breit“, sagt einer aus der Beleg­schaft an der Magdeburger Magistratsstrecke. Und das in Unmen­gen. „Es gibt Familien“, so Herbert Übe, „die verballern zwan­zig Tonnen im Jahr.“ „Haushaltsqualität“ nennt man die kohlehaltige Pressmixtur, die wegen ihres hohen Wassergehalts schon vom bloßen Angucken auseinanderbröckelt. Nur die Verdienten der Partei, die bekamen einst die besten Qualitäten zuschustert, sogar Raritäten wie Hochtemperaturkoks, staubfrei mit der Forke per Hand eingesackt. Der Rest kriegt Krümmel.

„Die Kohle hier ist das Letzte, danach kommt nur noch Asche“, meint Herbert Schewe aus der Hafenstadt Wismar. Früher brachte er als Kommissionshändler für die Volksbetriebe die Kohlen an den Mann, heute macht er dasselbe als Unternehmer. Das Betriebskapital des 53-jährigen erschöpft sich in seinem Rücken und seiner „alten Oma“, die jeden Morgen angekurbelt werden muss: ein Lastkraftwagen „Phänomen K 30“, gebaut 1957. „Sie können sich kaputt arbeiten, Sie werden nie reich“, hat ihm kürzlich ein Steuerberater mit kapitalistischem Instinkt prophezeit.

Bislang hatten die privaten Kohlenhändler so etwas wie eine stillschweigende gesellschaftliche Mission. Bei ihnen fanden jene Unterschlupf, die als staats- und gesetzesfromme Bürger keine Lorbeeren errungen hatten: die offiziell gar nicht vorhandenen Kriminellen. Sie mussten sich nach vorheriger Läuterung im Knast unterm Sack die Sporen der Gesellschaftsfähigkeit erneut verdienen. Für einen mageren Lohn von meist nicht mal 500 Ostmark. Trotzdem schwört der Kommissionär Ludwig Kopsicker aus Schwerin auf seine Kohlengang: „Auf die kann man sich hundertprozentig verlassen. Die Jungs sind in Ordnung.“

Was noch schwärzer ist als aller Kohlendreck, das ist der Humor der Sackneger. „Der Erich hat immer getönt `Aus den Betrieben ist mehr rauszuholen'“, meint Ex-Knasti Eddi. Die Belegschaft vom Kohlenhändler Kopsicker biegt sich vor Grölen: „Daran haben wir uns gehalten.“ Wenn auch die Kohlenwirtschaft nicht florierte, die schwarzen Geschäfte blühten. Allerorten in der Republik wurden nach dem Motto „Erst geschoben und dann geschleppt“ Kohlen und Koks waggonweise aus den Betrieben geschleust.

Jürgen Kastulsky jedoch, alias „Jumbo der Berge“, hat sich vor ein paar Jahren mit seinem Kompagnon beim illegalen Verkauf von Volkseigentum erwischen lassen. Laut Anklage­schrift hatten sie 406 Tagen 8120 Zentner Braunkohlenbriketts unters Volk gebracht. Nicht zum Zweck des Aufbaus des Sozialismus, sondern für die eigene Tasche. Wegen des „verbrecherischen Diebstahls sozialistischen Eigentums“ wanderten die beiden Ga­noven hinter Gitter. Über ein Jahr saß der Jumbo in der Straf­vollzugseinrichtung Berlin und musste zudem noch jahrelang 15.000 Mark Geldstrafe abstottern. „Ob Schichtleiter oder Wiegemeister, die haben alle geschoben“, sagt Ka­stulsky. Noch heute funktioniert kaum eine Waage richtig. Das Gewicht der Kohlenlieferungen wird per Hand auf die Wiegekarten eingetragen, denn der auto­matische Stempelaufdruck ist überall kaputt. Da werden des öf­teren ein paar Zentner weniger auf die Karte gekritzelt als de facto vom Platz rollen. Der Überschuss wird dann schwarz verkauft. Oder der Zentnersack bestenfalls 45 Kilo schwer.

Zwar nicht über das schlechte Gewissen, wohl aber über die Strapazen der Säckeplackerei hat sich so manch ein Kohlenschlepper am Tresen hinweggetröstet. Schon morgens plöppen die Bierpullen. In so mancher Schmuddelecke türmen sich die leeren Flaschen „Weinbrand Privat“. Und an der „Abriebschänke“, einem selbst gebastelten Geheimfach verborgen in den Spinden eines Umkleideraums, wird Schlange gestanden für „Klosterbruder“ und Nordhäuser“ und neuerdings auch für Aldi-Spirituosen.

„Wenn hier mal was getan würde, hörte auch sie Sauferei auf“, meint die Belegschaft auf dem Kohlenplatz Dresden-Nord. Die hoffungslos veralteten und verrotteten Entlade- und Abfüllanlagen bringen, wie Kastulsky formuliert, selbst „antiquaritätisch nix mehr“. „Hier funktioniert nichts“, sagt auch der Kollege an der Waage vom Kohlenplatz-West. „Ob die Kohle hier rausgeht oder nicht, da kannste würfeln. Alles Zufall.“

Dann weist er rüber zum Fuhrpark. Dort stehen die Lastkraft­wagen: „Vier totale Leichen, drei fahren noch.“ Die Verantwortlichen zucken die Schultern, die Arbeiter schütteln den Kopf. Und werden allmählich wütend. Denn auch mit den Umkleideräumen, den Kantinen samt Speisezettel, den Duschen und sanitären Anlagen hat man den Kohlenträgern das Letzte angedeihen lassen, was der Plan zu bieten hatte. Die Duschen beim Kohlenhandel Nord sind das Dreckigste diesseits und jenseits der Alpen.

Und doch es gab etwas, was dem Kohlenjob ein bisschen Attrakti­vität verlieh: das Verständnis derer, die echte Schinderei zu würdigen wussten, ein schlichtweg menschliches Mitgefühl, das sich wiederum in Form eines bisweilen üppigen Trinkgeldes mate­rialisierte. Ostmark hatten die Bürger genug, und damit wurde nicht gegeizt. „Vierhundert Mark haben wir jeden Monat nebenbei ge­macht. Doch das ist jetzt vorbei. Die Leute kleben alle an der Westmark“, sagt Hans-Jür­gen Kastulsky. Wie mit Geizhälsen umzugehen ist, das hat der einstige Jumbo der Berge gezeigt, als er einst mit seinem Kumpel in den Veilchenweg 13 musste. „Fünfzig Zentner haben wir dreiundvierzig Stufen hoch geschleppt. Zur Belohnung gab es ein Glas Selters mit zwei Strohhalmen.“ Das ließ sich der Treppenkönig nicht bieten: „Dem hab ich das Wasser vor die Füße gekippt. Wie der geguckt hat, das war das Schönste, was ich in meinem Leben erlebt hab.“

Erschienen in: Stern, 1990