Interview über eine Dokumentation der Kinderarbeit in indischen Steinbrüchen
mit Dieter Kohl, Redakteur der Zeitschrift „Wort & Tat“
Sie haben eine Woche bei den Menschen in den Steinbrüchen von Yeleswaram verbracht. Sehen die Augen eines Fotografen anders als die eines Reisenden ohne Kamera?
Ich denke schon. Gewiss haben der Fotograf und der Reisende erst einmal etwas gemeinsam: ihre innere Beteiligung, die menschliche Anteilnahme an Schicksalen, das Sehen von Sorgen und Nöten, aber auch das Teilen von Momenten des Glücks und der Freude. Nur, dem Reisenden reicht es normalerweise, wenn er diesen Erfahrungsschatz in seiner Erinnerung bewahren und wenn er daraus Konsequenzen für sein Handeln ziehen kann. So kann ein Fotograf jedoch nicht nach Hause kommen. Er muss all diese persönlichen Erlebnisse verobjektivieren. Das heißt ganz einfach: Er muss Bilder auf den Tisch legen. Und zwar solche Bilder, die vom Leben der Menschen in den Steinbrüchen erzählen, möglichst so, dass beim Betrachter eine Idee, ein gedankliche und sinnliche Vorstellung über das Leben dieser Leute aufsteigt, über die Mühen der Arbeit, den Schweiß und den Preis der unseligen Kinderarbeit.
Nur wenige Indienreisende verschlägt es in die Dörfer auf dem Lande wie in dem Bundesstaat Andhra Pradesh. Hier ist die Armut der Menschen oft schockierend. Das Leben folgt traditionellen Gesetzen einer Kultur und Religion, die wir als Europäer nur schwer verstehen können.
Das stimmt. Doch das Wunderbare an dem Beruf des Journalisten ist ja, dass man gar nicht alles verstehen muss. Wenn ein Unternehmer etwas verkaufen will, und niemand will seine Ware haben, dann hat er falsch gewirtschaftet oder am Markt vorbei kalkuliert oder er hatte einfach Pech. Und wenn ein Fotograf seine Motive sucht und sie nicht findet, dann war seine Reise umsonst. Ein schreibender Journalist hat es da viel leichter. Er kann immer noch darüber schreiben, dass er etwas nicht verstanden hat. Zum Beispiel werde ich niemals die Hierarchien der hinduistischen Götterwelt begreifen und auch der schicksalhafte Karmaglaube der Inder wird mir wahrscheinlich letztlich doch fremd bleiben. Aber als Journalist kann ich eben dieses Nicht-Verstehen zu meinem Thema machen. Das sind oft die spannendsten Reportagen, weil es vielen Lesern ja genauso geht.
Haben Sie solche Momente des Fremden, des Nicht-Verstehens in Indien erlebt?
Ja, eigentlich dauernd. Das fing schon gleich bei der Ankunft im Bahnhof von Vishacapatnam an. Eine hundertköpfige Begrüßungsdelegation für unsere kleine Reisegruppe hatte ich einfach nicht erwartet und war sehr überrascht, so eine riesige Blumengirlande um den Hals gehängt zu bekommen. Ich dachte, behalt die Girlande eine Weile um. Sie sofort beiseite zu legen erschien mir unhöflich, obwohl mich das Riesending beim Fotografieren behindert hat. Das war falsch gedacht, denn ich erfuhr: wer die Blumen nicht sofort ablegt, gilt als eitler Pfau. Auch hat mich irritiert, dass man bei jedem abendlichen Festakt ein paar Sätze sagen muss. Nicht das ich nicht gern erzählen würde. Aber es waren sehr viele Festakte, und der Eindruck drängte sich auf, nicht so sehr was man sagt ist wichtig, sondern dass man überhaupt etwas sagt. Völlig egal was. In Indien sind die Menschen da extrem geduldig. Da dämmern die Zuhörer oft im Halbschlaf vor sich hin, bis auch wirklich jeder, der irgendwie wichtig zu sein scheint, am Rednerpult was gesagt hat. Für notorisch ungehaltene Journalisten ist Indien sicherlich ein gutes Übungsfeld sich in der Tugend des Geduldens zu üben. Ohne Geduld und Zeit ist man in Indien aufgeschmissen, da kommt man nicht ans Ziel. Doch es gab auch Momente, wo die Inder mich als Europäer nicht verstanden haben.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Im indischen Chilakapuripeth wurde mit Hilfe von Wort&Tat eine neue Wasserleitung gebaut. Den Verantwortlichen dort war es sehr wichtig, dass ich die Wassertürme und die Leitungen fotografiere. Das kann ich natürlich machen, aus Freundlichkeit. Aber diese Fotos zeigen nichts. Vor allem zeigen sie nicht, dass die Wasserleitung für die Menschen dort die Sicherung ihrer Existenz bedeutet. Wir hier in Europa können den Wert dieses Wasserturms nicht aus den Fotos herauslesen. Wasser ist für uns selbstverständlich. Wenn ich also in Europa den Wert des Wassers für die Stadt Chilakapuripeth zeigen will, muss ich da anders herangehen. Umgekehrt. Ich muss den Mangel an Wasser, die Dürre und Trockenheit zeigen. Das haben die Leute in Indien nicht verstanden. Für sie musste es unbedingt das Bild von der Wasserleitung sein.
Die Menschen in den Steinbrüchen haben Sie oft aus großer Nähe fotografiert. Wie viel sachlich-kühle Professionalität und wie viel warmherzige Sympathie muss man den Menschen dort entgegenbringen, wenn man sie so fotografieren will?
Man kann natürlich in den Steinbruch gehen und sagen: „Jungs, da bin ich. Zeigt mal eure schwieligen Hände. Ich knipse Euch jetzt mal.“ In vielen Ländern funktioniert diese Dreistigkeit sogar, weil die Menschen höflich und zuvorkommend sind und nur sehr selten widersprechen, selbst wenn ihnen etwas nicht gefällt. Das passiert in Indien oft, und das ist sicherlich auch eine Folge des Kolonialismus und einer Religion, die den individuellen Willen nicht so hoch schätzt als das etwa in Europa der Fall ist. Und natürlich kommt man mit dieser Methode auch zu seinen Bildern. Doch es sind meistens äußere Bilder, bloße Ablichtungen. Das sind geklaute Fotos, und ich meine, man sieht solchen Fotos den Akt des Stehlens irgendwie an. Gute oder besser starke Fotografien sind immer Bilder, die man geschenkt bekommt. Und die Menschen schenken einem Fotografen nichts, wenn sie spüren: „Der benutzt mich nur.“
Aber denken Sie an die ganze Diskussion um die Paparrazifotografen, die hinter Prominenten herjagen mit ihren Teleobjektiven den abgeschossenen Opfern ihr Bild stehlen.
Natürlich gibt es Fotografen, denen es egal ist, ob sie dort, wo sie auf den Auslöser gedrückt haben, verbrannte Erde hinterlassen. Doch solange es Magazine und Zeitungen gibt, die diese Bilder drucken, und solange eine große Masse von Leuten nach diesen Bildern giert, wird es auch Fotografen geben, die damit Geld machen. Doch ich muss sagen, ich kenne wirklich keinen Kollegen, der so arbeitet.
Aber für die sogenannten Sozialreportagen über das Elend in der Dritten Welt gibt es doch auch einen Markt? Als freier Journalist sind Sie doch auch Geschäftsmann. Auch Sie müssen Ihre Bilder und Texte verkaufen.
Klar, das ist mein Beruf. Und es ist ein harter Beruf, auch wenn man oft von Leuten beneidet wird, die nicht die Möglichkeit haben, so viele verschiedene Länder kennenzulernen. Doch es wird immer schwieriger, selbst gute Reportagen zu verkaufen, vor allem dann, wenn es um soziale Brennpunkte geht. Eine Redaktion, mit der ich über die Steinbruchkinder in Indien sprach, sagte: „Das hatten wir vor zwei Jahren, Frauen in Steinbrüchen in Bolivien.“ Damit war das Thema vom Tisch. Wenn ich aber Claudia Schiffer fotografiert hätte, käme keine Chefredaktion auf die Idee zu sagen, letzte Woche hatten wir Kate Moss oder Nadja Auermann im Heft.
Und warum fotografieren sie keine prominenten Models?
Warum sollte ich der Flut an künstlichen und gekünstelten Fotografien noch weitere hinzufügen? Es so viele Gesichter in der Welt, die viel spannender, viel aufregender sind, weil sie einfach mehr vom Leben zu erzählen haben. Ich mag ganz einfach Bilder nicht, die mir effektvolle Posen und Gesten als Natürlichkeit verkaufen wollen. Manchmal denke ich, die Menschen hier verlernen immer mehr, dem zu lauschen, was die Gesichter der einfachen Leute zu erzählen haben.
Was haben Sie in den Gesichter der Menschen in Indien gesehen?
Indien gehört gewiss zu den Ländern, wo sich das Spektrum des Menschlichen – zwischen tiefster Trauer und größter Freude – ganz offen zeigt. Die ungeschminkte Ehrlichkeit, mit der man den Menschen dort begegnen kann, übt eine große Anziehung auf mich aus. Auch wenn das Leben dort oft leidvoll, unbarmherzig und entwürdigend ist, so ändert es doch nichts daran, dass dort großartige Menschen leben.
Glauben Sie, dass man mit der Fotografie heute noch Menschen aufrütteln und bewegen kann? Oder haben die Leute heutzutage von den sogenannten Elendsfotos einfach genug?
Ich finde diese sogenannte Elendsfotografie, die vordergründig versucht Mitleid zu erheischen, einfach schrecklich. Sie ist billig, weil sie die Menschen, die sowieso schon Opfer sind, noch ein zweites Mal zum Opfer macht. Indem die Fotografie diese Menschen zu Objekten des Mitleids degradiert. Dabei geht es oft nur um die Befriedigung eigener sentimentaler Bedürfnisse. Das Mitleiden ist jedoch keine sentimentale Angelegenheit, sondern eine Frage des Sehens und Wahrnehmens. Und eines Handels, mit dem man aus dem eigenen egoistischen Käfig heraustritt. Natürlich kann man auch Geld sammeln, das ganze nach Indien zu schicken und sagen: „So, das ist jetzt mal für die Armen“. Das ist jedoch, meine ich, ein zu einseitiger Prozess.
Welche Möglichkeiten sehen sie als Journalist, diese Einseitigkeit zu durchbrechen?
Wir müssen uns ernsthaft die Frage stellen, was wir eigentlich von diesen Menschen lernen wollen. Es ist nämlich keineswegs so, dass wir etwas haben und die haben nichts. Jeder, der dem Anderen hilft, bekommt ja viel mehr zurück als er gibt. Man geht in einen Steinbruch und sieht diese stummen steinalten Kindergesichter. Und nur einen Kilometer weiter, in der neuen Schule schaut man in offene, wache Kinderaugen. Dieses einfache Umschalten von Leid in Freude, diese im Grunde ganz einfache Geschichte, die ist das wirklich Wunderbare.