Bulgarien: Die Kunst des Alterns

Hundertjährige

 

 

 

 

Hast du Gold,
streiten die Kinder

 

Vor ein paar Tagen zogen die Wolken vom Hochgebirge hinab in die Täler. Seitdem hängt Dolen im Nebel, dämmert in trübem Dunst vor sich hin. Regen, nichts als Regen. Mal nieselt, mal peitscht er durchs Dorf, treibt Menschen und Vieh in ihre armseligen Behausungen. Wie immer im November. Stürme zerren an windschiefen Hütten, fegen verwitterte Bruchsteinplatten von den Dächern. Nässe lässt hölzernes Fachwerk modern, weicht uraltes Mauerwerk auf. Vor mehr als zwei Jahrhunderten wurde es zusammengepappt aus Weidenruten, rotem Lehm und getrocknetem Kuhmist.

Doch die Schornsteine rauchen. Noch immer wird in dem verfallenden 500-Seelen-Nest geheizt, steigt Qualm auf aus marodem Gebälk. Das architektonische Gesetz vom rechten Winkel scheint in dem Gebirgsdorf gut tausend Meter über dem Meeresspiegel unbekannt. Keine gerade Wand stützt die zweigeschossigen Häuser. Unten haust als Wärmespender das Vieh, oben leben die Menschen in bescheidenen Kammern, erreichbar nur über halsbrecherische Trampelpfade und morsche Holztreppen.

Wo im Sommer Kühe, Schafe und Ziegen durchs Dorf trotten, strömt eine braune Suppe zu Tal. Die Kanalisation, eine Abflussrinne in der Mitte der ausgespülten Gassen, ist ebenso antiquiert wie überfordert. Sie schafft es einfach nicht, das scheußliche Gebräu aus Abwasser, Küchenresten und Tierkot in geordnete Bahnen zu lenken. Da geht niemand gern vor die Tür. Nur ein paar alte, schwarzgekleidete Frauen stecken ihre Füße in dicke Wollsocken, stülpen knöchelhohe Gummischuhe über und schlurfen durch den Morast. Als Fremde ernten wir gerade mal einen schrägen Blick unter schwarzem Kopftuch hervor. Dann sind die Alten samt Maultier im Schlepptau auch schon wieder verschwunden, verschluckt vom Nebeldunst
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Selbst im Sommer liegt Dolen weit ab von der Welt inmitten der Rodopen, jenem Gebirge, dem der Balkanstaat Bulgarien den Ruf als „Land der Hundertjährigen“ verdankt. Nur selten quält sich ein schrottreifer Lastwagen die endlosen Serpentinen hoch. Und Fremde verschlägt es erst recht nicht in die Dörfer der Alten, nach Borino, Kribull oder Jagodina, Käffer, die selbst die detaillierteste Straßenkarte nicht für erwähnenswert hält. Urlauber lassen die Berge rechter Hand liegen, weichen nicht ab von ihrer Route zu den Stränden am Schwarzen Meer, wenn sie den berüchtigen Autoput entlangbrettern, der von Jugoslawien kommend über Sofia nach Istanbul führt. Auch vom Süden her fehlt jeder Zugang zu den „Rodopi“. Die paar Steige gut zweitausend Meter hoch rüber nach Griechenland wurden vor Jahrzehnten zuletzt begangen. Von Schmugglern, die Öl und Oliven von den Griechen holten im Tausch gegen Honig und Tabak.

„Vor zwei, drei Jahren“, sagt Luma Tersiev, „wäre ich noch mit euch in die Berge gegangen und hätte euch ein paar schöne Verstecke oben in der Jagodina-Schlucht verraten. Aber schaut euch bloß meine Knochen an. Scheiße, sage ich euch. Nichts mehr los mit ihnen.“ Sodann stimmt Luma Lobeshymnen auf seine einst so schnellen Beine an. Schließlich verdankt er ihnen nicht nur, dass ihn die Grenzpatrouillen damals nicht erwischten, sondern auch den glücklichen Umstand sein „wirklich allerallerschlimmstes Erlebnis“ schadlos überstanden zu haben. Mit theatralischem Getue lässt der 106-Jährige eine Begegnung aufleben, aus der Zeit, wie er sagt, „als ich noch jung war“. In einem Alter, nebenbei bemerkt, in dem Männer in Mitteleuropa seit Jahren ihre Rente kassieren.

Damals traf Luma im Gebirge auf den nach vielfachen Bekundungen „allergrößten und allerblutrünstigsten Bären“ seines Lebens. Gigantisch muss das Viech gewesen sein, so wie der Alte sich zu voller Größe aufplustert, das markerschütternde Gebrüll eines Braunbären nachahmt und wie ein Wilder mit den Armen in die Luft stochert. „Glaub mir mein Sohn“, sagt Tersiev mit todernster Miene, „ich konnte vor Angst nicht mal in die Hose kacken. Was glaubst du, wie ich gerannt bin. Wie der Teufel. Aber ich bin ihm entkommen. Darauf müssen wir einen Mastika trinken.“

Luma Tersiev bittet uns in seine Wohnstube, in einem Haus, das gewiss noch ein paar Jahre mehr auf dem Buckel hat als selbst. Eine Bullenhitze schlägt uns entgegen aus einer winzigen, völlig überheizten Kammer. Darin ein Bett, ein zusammengeschusterter Tisch, zwei wackelige Stühle, auf dem Fensterbrett ein uraltes Monstrum von Radio, an der Wand die verblichenen Fotos seiner Enkel. In der Ecke faucht der Bollerofen. Luma wirft noch einen Holzscheit in die Glut.

Noch immer strotzt der Alte vor Vitalität, sprüht geradezu vor Lebendigkeit. Die erstaunlich wenigen Falten in seinem Gesicht, erkärt Luma, „die kommen von dieser verdammten Lacherei. Ohne Humor, da hast du doch keine Freude am Leben.“ So lacht er denn gern und oft, meist in Verbindung mit einem satten Fluch. „Verdammte Scheiße“ ist nicht nur sein Lieblingswort, „verdammte Scheiße“ ist so ziemlich alles, was ihm gegen den Strich geht. Vor allem, so wettert der gelernte Baumeister, „dass ich nicht mehr arbeiten kann.“ Immerhin hat er in seinem langen Leben gut hundert Häuser hochgezogen. „Die verfluchten Beine“, schimpft er. „Die Hände, kein Problem. Die tun noch, was ich will.“ Was Herr Tersiev auch gleich unter Beweis stellt. Mit ruhiger Hand gießt er noch einen Anisschnaps nach und dreht sich aus Zeitungspapier und Tabak ein Riesending von Zigarette.

Der blaue Dunst zählt zu den kleinen Freuden im Leben der Rodopenbauern. Ein billiges Vergnügen, schließlich wächst der Tabak vor der Haustür. Da wird gequalmt, was die Lungen hergeben. Jedenfalls überfällt einen beim Eintritt in eine rodopische Dorfkneipe erstmal ein mächtiger Hustenanfall. Vor allem in Dolen, wo wir erst nach Tagen mitbekommen, dass sich hinter einem knarrenden Eichenbrett mit Klinke die lokale Gastronomie verbirgt.

Auf dem abgewetzten Holzboden fletzt sich ein Köter zwischen Feuerholz. In den Ecken verstauben Dutzende leerer Bierkisten. In der Mitte glüht ein rostiges Ölfass mit Knickrohr, das durch ein völlig überdimensioniertes Loch in der Wand den Weg nach draußen findet. Das ist der Ofen. Um ihn drängen sich die Männer. In den Tassen zur Linken dampft heißer Kaffee, in der Rechten qualmt die Selbstgedrehte oder die billige „Arda“ zu acht Pfennigen – pro Schachtel. Bröselt vorne der Tabak raus, wenn man sie schräg hält. Auf den Tischen die Schnapsgläser mit „Rakija“ und sonderbare Gerätschaften: Quarzsteinchen, zu Fasern zerkochtes und getrocknetes Buchenholz und halbe Hufeisen, platt geschmiedet und scharfkantig geschliffen. Das sind die Feuerzeuge. Gegen den Quarz geschlagen bringen die Metallklingen mit Funkenflug die Buchenholzwolle zum Glimmen.

Mittags um zwölf ist die Kneipe gerammelt voll. Der Dorfschmied kommt, unterm Arm ein paar dicke Brennholzkanten. Der Bäcker Wenzislav bringt einige frischgebackene Brote mit. Naturalien, deren Gegenwert in Schnaps aufgewogen wird. Und dann kommen auch noch der Schäfer Dimitar, der so wunderschön Flöte spielen kann; Georgi, der immer nur rumnörgelt, weil seit Monaten der Nachschub an Bira ausbleibt; und Vassil, der noch nie ein überflüssiges Wort über seine Lippen gebracht hat.

Plötzlich tritt der alte Jäger Halil ein, klopft sich den Dreck von den Stiefeln und wirft eine riesige Fuchsdecke auf den Boden. Er war wieder mal in den Bergen. Heute in der Frühe hat er den roten Räuber erwischt, hat ihm gleich das Fell über die Ohren gezogen. Die Männer verstummen, als Halil Mehmedov seinen rechten Zeigefinger hebt. Er zeigt, wie er den Abzugshahn seiner Büchse betätigt hat. Ganz ruhig, ohne das leiseste Zittern – und das mit seinen dreiundachtzig Jahren.

„Morgen kommen sie wieder“ erzählt Halil, „die Halsabschneider von der Jagdunion.“ Die erscheinen alle paar Monate um für ein paar Lewa die Beute einzukassieren, die der Alte im Gebirge macht. Was sie mit den Fellen anstellen weiß Halil nicht. Es interessiert ihn auch nicht. Ihn interessieren die Füchse nur, weil sie freßgierig sind, sich nachts ins Dorf schleichen und die Hühner holen. „Vielleicht“, so vermutet er, „verkaufen die vom Staat die Pelze ins Ausland.“

„Was, aus Deutschland kommt ihr her“, staunt er, „von so weit.“ Dann nimmt er ein Stückchen von Wenzislavs Broten und erklärt den Anderen voller Stolz: „Wisst ihr, die Deutschen sind ein eigenartiges Volk. Sie essen immer nur schwarzes Brot, so schwarz wie die Nacht. So was habt ihr noch nicht gesehen.“ Wie auch? Die Leute aus Dolen kennen nur zwei Sorten Brot. Genau genommen nur eine. Immer aus hellem Weizenmehl. Doch je nach Laune knetet der Dorfbäcker „Wenzi“ den Teig lang und dünn oder kurz und dick.

Was die Stimmungen des 24-jährigen angeht, da muss man sich schon auf Schwankungen gefasst machen. Je nachdem, wie der Abend und die Nacht verlief. Schließlich muss Wenzi nicht nur um vier in der Früh aus den Federn, er ist auch auf Brautschau. Das raubt die Kräfte. „Allmählich muss ich ans Heiraten denken“, sagt er. So treibt es ihn ins nächst größere Dorf nach Satovca. Zu Fuß. Am späten Nachmittag hin, zehn Kilometer, und nachts den gleichen Weg zurück. Mitunter direkt in die Backstube, meist gutgelaunt. „Wegen der Mädels“, grinst er.

Schlechte Bäckerlaune, unförmige, bisweilen etwas angekokelte Brote hingegen gelten in Dolen als sicheres Indiz: Wenzi hat mal wieder mit Freunden gepokert. Große Mengen Geld gehen dabei nicht über den Tisch, wohl aber becherweise Pflaumenschnaps, selbstgebrannten Slivova rakija. Bis zum Abwinken. Tags drauf nickt Wenzi schon mal am Backofen ein. Und Ärger in der Familie folgt obendrein. Vor allem die Mutter schlägt Krach. Denn alles sieht sie ihrem Wenzi nach, nur nicht die unselige Schnapstrinkerei.

Bei ihr genießen wir die rodopische Gastfreundschaft in ihrer üppigsten Form: weißes Brot mit würzigem Hammelfleisch, leckere Eintöpfe mit Linsen und Speck, Bohnen mit Rind, duftender Kohl und eingelegte Paprika, Gurken und Tomaten. Dazu Katschamak, ein überaus sättigender Maisbrei. Den gart Wenzis Mutter in jenem Backofen, in den sie jeden Abend unsere kalten Füße steckt. Stets nachdem sie zuvor versucht hat, sie mit ihren Händen zu erwärmen. Hier lässt es sich alt werden.

„Ja, ja, ihr habt gut reden, sicher ist es schön alt zu werden, aber glaubt mir, es ist nicht schön alt zu sein.“ Ana Antimova Tschauscheva aus Kribull, geboren 1889, spricht mit großem Ernst, ohne die Spur eines klagenden, gar jammernden Untertons. Gesund bleiben, alt werden, das ist eine Gabe Gottes, ein Geschenk des Schicksals, ein erstrebens-, gar begehrenswertes Lebensziel ist es nicht. Zumindest nicht für diejenigen, die gesund geblieben, die alt geworden sind. Denn mitunter fällt es schwer, das Geschenk anzunehmen. „Wenn Du keine Aufgabe mehr hast bist Du tot“, sagt Ana. „Du musst etwas in den Händen und im Kopf haben. Wenn die Alten nicht mehr für die Jungen da sein können, was hat das Leben dann für einen Wert?“

Doch Ana Tschauscheva ist noch für die Jungen da. Die 103-jährige schafft noch im Familienhaushalt ihres selbst schon etwas betagten Sohnes. Den ganzen Morgen über sitzt sie in der Küche. Vor ihr viele Säcke prallgefüllt mit Bohnen. Die knibbelt sie aus den Hülsen, stundenlang. „Aber das ist doch keine Arbeit“ klärt sie uns auf. „Arbeit, wisst ihr, was das ist? Den ganzen Tag mit dem Esel die steilen Berge rauf und Holz holen, den ganzen Tag in der brennenden Sonne auf dem Tabakfeld, das ist Arbeit. Die Knibbelei ist nur gegen die Langeweile.“ Als wir uns verabschieden, stopft uns Frau Tschauscheva nicht nur die Taschen voll mit Bohnen, sie gibt uns auch noch ein kleines Geheimnis mit auf den Weg: „Wisst ihr, warum die Frauen bei uns in den Bergen älter werden als die Männer?“ Nein, wissen wir nicht. „Wir arbeiten rund um die Uhr, die Männer quatschen, rauchen und verschlafen den halben Tag.“

Das muss am Winter liegen. Ist ja auch nicht viel zu tun, wenn die Viehweiden vereist, wenn die Felder knüppelhart gefroren sind. Nur bereitet ausgerechnet die kalte Jahreszeit, die den Männern so geruhsame Tage beschert, auch jede Menge Sorgen. Massive Sorgen. Die Bauern klagen. Der Winter schafft Probleme, die ein paar Jahre zuvor kein Tabakpflanzer, kein Maisbauer und kein Schafhirte erahnen konnte. Die Weiden sind im Sommer nicht mehr so saftig wie früher, die Schafe nicht mehr so fett, die Schur nicht mehr so ergiebig. Auch die Tabakblättern werden mickriger. Letzten Sommer gab es fast im ganzen Rodopengebiet das natürlichste Grundnahrungsmittel nicht zu kaufen, den typischen Honig mit seinem leicht herben, würzigen Geschmack. Denn die Imker setzen ihre Bienenvölker vorzugsweise auf die Millionen von Tabakblüten an. Doch es war zu trocken. Denn es schneit immer weniger.

Das Verkehrsschild östlich der Stadt Goce Deltschev am Fuße der Rodopen erwies sich im letzten im Winter als überflüssig. Allen Warnungen zum Trotz waren die Bergstraßen passierbar. „Früher ging uns der Schnee bis zum Bauchnabel“, erzählt der Dorfälteste aus Oresche. „Klimaverschiebung“, schätzt Mustafa Kambertschov. Seine Söhne aus Sofia haben ihm davon erzählt. Er selbst hat nur die ausgetrockneten Talsperren wahrgenommen, die zur heißen Sommerzeit nicht genügend Wasser führen. So hoffen die Bauern, dass der Wassermangel der letzten Jahre für die Landwirtschaft nicht langfristig ein Desaster heraufbeschwört, das Mustafa auf die knappe Formel bringt: „Ohne Schnee kein Brot.“

Am Wasser hängt nicht nur die Tabakwirtschaft, sondern auch die Wollfabrikation. Die überlassen die Hirten den Frauen. Wenn sie nicht gerade in der Küche stehen, das Vieh versorgen oder sich draußen am Waschplatz abplagen, hocken sie in der Spinnstube. Oder sie verdingen sich in den ungezählten, kleinen Teppichknüpfereien. Dort rutschen sie auf blankpolierten Holzbrettchen an meterhohen Webrahmen entlang, verknüpfen tausende bunter Wollfäden. Rund um die Uhr, auch wenn der Rücken schmerzt. Und der schmerzt immer. Sechs Monate brauchen drei Frauen für einen Teppich Größe drei mal vier Meter. Die traditionellen Muster für die Teppiche liefert ein Unternehmer aus der Stadt Goce Deltschev. Der ist clever. Der lässt für seine Kunden im Westen arbeiten. Die haben Geld, zahlen ihm 45.000 Lewa pro Stück. Die Frauen kriegen fürs mühselige Knüpfen knappe 200 Lewa im Monat. In Rom würden der karge Lohn gerade für eine Pizza und ein Glas Wein reichen.

„Die Menschen in den Bergen sind nicht reich, doch sie müssen auch nicht hungern. Schließlich teilen sie das wenige, was sie haben“, sagt Professor Arger Chadzsichristev. Er ist überaus erfreut darüber, mit den Rodopenbewohnern der Forschung „einen ganz besonderen Menschenschlag“ erschlossen zu haben. Denn Chadzsichristev leitet die Abteilung für Innere Medizin im Bezirkskrankenhaus der Rodopenstadt Smoljan. Er gilt als Experte für Geriatrie, beschäftigt sich von Berufs wegen mit den Gesetzen des Alterns. „Es war schon immer schon das Bestreben der Mediziner so etwas wie ein Lebenselexier zu entdecken“, meint er. Weshalb er sämtliche Bergdörfer nach alten Leuten abgeklappert hat. Auf behördliche Erhebungen und amtliche Statistiken konnte er sich dabei nicht stützen. Er musste seine Untersuchungsobjekte schon selber aufspüren. So sind ihm allein im Bezirk Smoljan, der 160.000 Einwohner zählt, 450 Hochbetagte und sechzig weit über Hundertjährige bekannt. Von einem Besuch der derzeit ältesten Frau Bulgariens, die 119 Jahre zählt, rät der Professor ab: „Sie bekommt ständig Besuch von Reportern und kann die dummen Fragen nach dem Grund ihres hohen Alters nicht mehr ertragen.“

Also besuchen eine weniger betagte Dame, die 105-jährige Sojnepa Kalowa in Kotschan. Eng wird es um den Tisch ihrer guten Stube an diesem Sonntagvormittag. Die halbe Verwandtschaft drängt sich um ihr ältestes Familienmitglied. Plötzlich sitzen wir im Dunkeln. Ein Blitzschlag hat für einen Stromausfall gesorgt. Die rodopentypische Anti-Kurzschluß-Vorsorge hat mal wieder nicht funktioniert. Die Leute hängen schwere Steine an die Leitungen, damit die Drähte während der ebenso häufigen wie heftigen Gewitter nicht in verhängnisvollen Kontakt treten. Wenn doch, kein Problem. Sofort leuchten Kerzen auf dem Tisch.

Zwar hat Sojnepa selbst nur zwei Söhne und eine Tochter geboren, doch ihre Kinder haben für reichlich Nachwuchs gesorgt: zehn Enkel, vierundzwanzig Urenkel und fünf Ururenkel. Bei der Frage nach Urururenkeln errötet eine junge Frau und schlägt verschämt die Augen nieder. „Ja“, lacht die Verwandtschaft, „die sind auch schon unterwegs.“

Ihr ganzes Leben war Sojnepa Kalowa für ihre Familie da, ihr ganzes Leben hat sie geschafft. Tagsüber auf dem Feld, abends in der Stube. Volkstrachten hat sie genäht und schöne dicke Wolldecken gestickt, ganz bunte, mit knalligem Rot neben giftigstem Grün und mittendrin ein brunftiger Hirsch. Ihr Dorf hat sie nur einmal in ihrem Leben verlassen. 1948 war das. Da war sie in Nordbulgarien. Da hat sie die Donau gesehen. „Wunderbar war es dort, doch längst nicht so wunderbar wie in Kotschan.“ Über ihre Heimat sagt sie, was alle Alten sagen: „Hier ist es schön. Hier bin ich geboren. Hier möchte ich sterben.“ Was sie hat alt werden lassen, darüber hat sich Sojnepa nie den Kopf zerbrochen. „Das weiß allein der Himmel. Vielleicht Vererbung“, rätselt sie. Immerhin sei ihr Vater auch weit über hundert geworden. Ärztliche Hilfe? „Nein, die habe ich nie gebraucht.“

Auch der 101-jährige Georgi Kaschanov nicht. Er hat sein Vertrauen in die Kunst der Mediziner sogar unwiederbringlich verloren, seit ihm ein Arzt einmal einen kranken Zeh wegschneiden wollte. Der Zeh blieb dran. Dank einer höllisch schwarzen Paste, die ihm ein befreundeter Jude empfahl. „Ich bin mein eigener Arzt“, meint Kaschanov und schwört auf die Rezepturen seiner Hausapotheke. Besagte Salbe, eine Mixtur aus Kamille, Schweinefett und Menthol, hilft grundsätzlich gegen alle erdenklichen Gebrechen. Ovale Steine, auf dem Ofen erhitzt und unter die Bettdecke gestopft, sind gut gegen Rheuma. Den Lappen aus der rostigen Fischkonserve getränkt mit Dieselöl, den legt sich der Alte beim Anflug einer Erkältung auf die Brust. Und ab und an ein Schlückchen Rakija, das dankt der Magen.

Professor Argir Chadzsichristev dagegen hält von alchemistischen Rezepturen überhaupt nichts. Er setzt auf pharmazeutische Produkte und die wissenschaftliche Forschung. Mit geriatrischen Untersuchungen, ungezählten Fachberichten über das Altern und mit seiner Dissertation, Thema: „Die Hundertjährigen im Rodopengebiet und der Zustand des Herz- und Kreislaufsystems“, förderte er zumindest die Erkenntnis zu Tage: „Das Rezept eines langen Lebens ist noch nicht gefunden.“ Über den Knoblauch und den legendären „Lactobazillus bulgaricus“, jene Pilzkultur die Milch zu Joghurt gerinnen lässt, wähnten Wissenschaftler dem Geheimnis der Hundertjährigen auf die Spur zu kommen. „Es gab Ärzte“, so Chadzsichristev, „die wollten nachweisen, das hohe Alter hinge einzig am Verzehr von Joghurt und Kefir. Das ist schlichtweg Quatsch.“

Natürlich hat Chadzsichristev eine Unmenge Faktoren herausgefunden, die eine hohe Lebenserwartung begünstigen: regelmäßiger Tagesablauf, saubere Luft, Ruhe. Erbfaktoren spielen eine Rolle und gewiss auch die Ernährung. Viele Aspekte sind jedoch ganz und gar unmedizinischer Natur. So ist dem Arzt aufgefallen, dass alle ihm bekannten Männer über Hundert zeitlebens nur mit einer Frau in Ehegemeinschaft gelebt haben, obwohl unter den vielen Moslems im Osten der Rodopen die Vielehe nicht unüblich ist. „Viele Frauen, viel Stress. Und der führt schnell unter die Erde“, so des Gelehrten Kommentar.

„Wer alt werden will, braucht eine große Seele und ein weites Herz“, sagt der Professor lächelnd: „Man muss in seinem Leben lernen, andere Menschen so anzunehmen wie sie sind, mit ihren guten und schlechten Seiten.“ Das Grundübel überhaupt bestehe darin, nicht mit dem wenigen zufrieden zu sein, was man hat. „Wer nicht besser leben will als sein Nachbar, der lebt ohne Konkurrenz und folglich ohne Leistungsdruck. Und das“, dabei setzt der Medicus wieder die ernste Miene des Wissenschaftlers auf, „ist gut für das Nervensystem.“

„Was hättest Du lieber“, wollte eine Rodopenzeitung einmal von dem greisen Stefan Kinin aus Stickel wissen, „eine Schale voll Gold oder eine Schale voll Leben?“ „Entweder leben oder sterben“, hat er geantwortet. Er nennt uns auch den Grund: „Hast Du Gold, streiten sich nur die Kinder.“

Streit wird es nicht geben. Denn Stefan Kinin besitzt nur ein altes Gewehr. Trotzdem, oder gerade deshalb ist er ein reicher Mann. „Gieße deinen Becher aus, dann wird er voll“, sagt er. „Wenn du nichts mehr geben, wenn du für niemanden mehr sorgen kannst, dann bist du reif für den Friedhof.“ Seine 74-jährige Tochter schüttelt den Kopf, signalisiert uns, dass sie die Worte ihres Vaters für dummes Zeug hält. Doch sie ist auch stolz auf ihn. Sehr stolz, wie der vergilbte Zeitungsschnipsel beweist, den sie hervorholt. Denn ihr Vater ist ein berühmter Jäger. Was schon allein aus der Tatsache spricht, dass vor Jahren ein Lokalreporter den Weg in das 70-Einwohner-Nest Stickel fand.

„Wenn er zielte, hat er immer getroffen“, ist über Stefan Kinin zu lesen. Die Jagd war schließlich seine ganze Leidenschaft. Doch obschon er so manchen Wolf erlegt hat, schmückt keine Jagdtrophäe sein Haus. Kein Fell, kein präparierter Schädel, kein ausgestopftes Wild, kein üppiges Geweih. „Wofür braucht man so etwas“, fragt er und erinnert sich kopfschüttelnd an die hohen Parteifunktionäre aus Sofia, die jeden Herbst zum Jagen kamen. Sie kamen fast nie allein. Meist in Begleitung betuchter Westeuropäer aus Deutschland, Frankreich und Italien. Über sie weiß Stefan Kinin nur: „Die sammeln tote Tiere und stopfen sie aus.“

Natürlich ist auch Herr Kinin kein Heiliger, kein Unschuldslamm vom Lande. Wenn über die 170 Rehe, 14 Bären und die „massenhaften wilden Schweine“ spricht, die er vom Leben zum Tode beförderte, dann treten ihm die Tränen in die Augen. „Ich habe viel gesündigt“, sagt er und erzählt von den vielen Rehen, die er zur Schonzeit abgeknallt hat. „Nicht nur aus Hunger, ich hab die Felle heimlich verkauft. Das gab gutes Geld.“ Doch es ist nicht allein das schlechte Gewissen, das den Greis so reumütig werden lässt, erzählt uns seine Tochter: „Er hat Angst, die Kommunisten könnten ihn für seine vergangenen Taten noch bestrafen.“

„Werden sie nicht“, hat die Tochter schon hundertmal gesagt. Doch das will ihr Vater nicht glauben. Die Kommunisten sind weg, geblieben ist Herr Kinins Misstrauen. Und das gründet nicht nur darin, dass mancher Bergdorfpotentat sein Amt als Bürgermeister auch nach der Absetzung des Machthabers Todor Schiwkoff im November 1989 behalten hat. Stefan Kinins Furcht wurzelt tiefer. Wie bei vielen Alten. Es ist die Furcht vor einer Macht, die stärker ist als die Gesetze des dörflichen Lebens, stärker als die tradierte Ordnung, ja selbst stärker als die Bande der Blutsverwandtschaft. Es ist die Macht der Politik. Und die hat ihren Sitz in der Stadt, in Sofia.

„Die kommunistische Regierung hat die Familien zerstört und die Generationen auseinander gerissen“, da ist sich Mustafa Kambertschov sicher. „Überall haben sie Fabriken gebaut und die jungen Männer angelockt. Und womit? Mit Geld natürlich.“ Wie so viele Alte hat es auch der Dorfälteste aus Oresche nicht verkraftet, das ausgerechnet seine beiden einzigen Söhne mit ihren Familien nach Sofia zogen. „In deinem Haus, Vater“, haben sie ihm gesagt, „werden wir die Zukunft nicht finden.“

Die 105-jährige Sojnepa Kalowa hatte mehr Glück. Ihr höchstes Gut ist ihr geblieben, ihre große Familie. Ihre ganze Freude. Aus der Familie erwächst das Leben, sie garantiert Sicherheit, gewährt Schutz und Fürsorge, vor allen aber Kontinuität. Wenngleich es für Sojnepas Enkel, Ur und Ururenkel nichts zu erben gibt. Nichts ist übrig vom einstigen Besitz der Kalowas. „Sojnepas Vater“, so sagen die Nachbarn noch immer mit ehrfurchtsvoller Miene, „war einst der reichste Mann im Dorf. Ihm gehörten 500 Ziegen, 1.000 Schafe und 50 Bienenvölker.“ Bis die Bulgaren 1946 die Monarchie abschafften, die Volksrepublik ausriefen und die Kommunisten die Macht ergriffen. Bis Mitte der fünfziger Jahre waren die Bauern in den Rodopen enteignet, ihr Land und ihr Vieh wurde in landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften zwangseingegliedert. Nur ein Prozent des Boden verblieb in privater Hand. Pro Familie nur eine kleine Parzelle. Doch das Stückchen Acker erwies sich als eine unschätzbare Kostbarkeit, von der die Menschen in den bulgarischen Städten nur träumen.

Sie leiden unter der chronischen Versorgungskrise. Der Weg zur Demokratie ist beschwerlich. Die wirtschaftliche Umgestaltung schmerzhaft. In den Supermärkten der Industriestädte fehlen die einfachsten Lebensmittel. Wohl dem, der ein paar Liter Benzin ergattert, um Verwandte in den Bergen zu besuchen. Zwar herrscht auch in den Kaufläden der Rodopendörfer gähnende Leere, doch darüber regt sich kaum jemand auf. Zeugen doch die Vorratskammern der Kleinlandwirte vom höchst effektiven Prinzip der Selbstversorgung. „Krise“, so Deltscho Batschvarov, der ehemalige LPG-Chef aus Krivo Pole in den Ostrodopen, „Krise ist in Sofia. Aber doch nicht hier in den Bergen. Hier hat jede Familie ihren Gemüsegarten, ihre Kuh, ein paar Schafe und Hühner.“ Und die wurden gehegt und gepflegt, während die staatliche Landwirtschaft zusehends verlotterte.

„Die Menschen werden unruhig, wenn das Land, das sie beackern, nicht ihr eigenes ist, wenn sie nicht wissen, wofür sie arbeiten“, meint Batschvarov. Er ist als Vorstandsmitglied der bulgarischen Bauernpartei für die privatwirtschaftliche Umgestaltung der Landwirtschaft zuständig. Deshalb lässt er Grundbücher und Staatsarchive durchforsten. In einer doppelten Absicht. Er will den ehemaligen Landbesitzern in seiner Gemeinde wieder zu ihrem Eigentum verhelfen und zugleich die Landflucht der jungen Generationen stoppen. „Vielleicht sogar“, hofft er, „kommen die jungen Leute aus den Städten wieder in die Berge zurück. In den Wohnsilos von Sofia, das hält doch kein Mensch aus.“

Doch wer vor Jahren schon dem entbehrungsreichen Landleben den Rücken kehrte, um in den düsteren Fabriken der bulgarischen Industriezentren sein Geld zu verdienen, dem fällt der Weg zurück zur guten Luft schwer. „Die Jugendlichen glauben, es sei heutzutage unehrenhaft sich mit Schafen und Ziegen zu beschäftigen“, schätzt Batschvarov. Aber er lässt sich in seinem Kampf für eine erneuerte Landwirtschaft nicht entmutigen. Und er kann einen ersten Erfolg aufweisen. Seit die Planstrategen in Sofia keine Vorgaben an die landwirtschaftlichen Staatsbetriebe mehr verordnen, haben die Kleinbauern seines Dorfes ihren Boden zu einer privaten Genossenschaft zusammengelegt. Nun verkaufen die Tabakpflanzer aus Krivo Pole ihre Blätter nicht mehr an die staatseigene Zigarettenfabrik, sondern auf dem freien Markt an einen griechischen Unternehmer. Der bietet ein Mehrfaches als „Bulgar-Tabak“ und bezahlt auch nicht in Lewa. Batschvarov: „Der legt Dollar auf den Tisch.“

„Passt mal auf, in ein paar Jahren wollen wieder alle hier in den Bergen leben.“ Bozjik Botev, der Bürgermeister aus Dolen, ist da ganz zuversichtlich. Botev hat Ideen. Auf ihn hören die Leute. Er hat ihnen klargemacht, dass Mut und Schöpferkraft in jedem schlummern. „Nur unter den Kommunisten galt der Unternehmungsgeist nichts.“ Nun will Botev die Traditionen beerben. Ihm schwebt vor, die alten Berufe wieder neu zu beleben: Holzschnitzer, Töpfer, Webstuhl- und Spinnradbauer. „Für die Souvenirproduktion. Irgendwann kommen Touristen, denen Europa zu hektisch ist.“

Nicht nur der Bürgermeister, auch die 500 Dorfbewohner kämpfen um ihre Heimat. Für sich und ihren Nachwuchs. Gerade die jungen Familien haben keine Lust mehr ihre Kinder zwischen feuchten Lehmwänden und morschen Dachbalken großzuziehen. Sie wollen die maroden Hütten renovieren, zudem haben sie neues Bauland erschlossen. In Gorna Mahala, dem Oberdorf von Dolen auf der westlichen Seite der Berghänge, entstehen schon die ersten Häuser. Das braucht Zeit, weil ein hohes Maß an Improvisationskunst erforderlich ist. „Wenn die Rodopendörfer bei der Versorgung mit Baumaterial als letztes an der Reihe sind“, sagt der Bürgermeister, „dann ist Dolen als allerletztes dran.“

Das hat den Dorfbäcker Wenzislav nicht daran gehindert sich ein schönes Grundstück zu besorgen. Er will seiner künftigen Familie ein Zuhause schaffen. „Im Sommer werde ich heiraten“, strahlt er. Die Mutter freut sich riesig. Sie hat im Übrigen nie einen Zweifel gehegt, dass die nächtlichen Fußmärsche ihres Sohnes letztendlich zum Erfolg führen.

„Irgendwann“, schätzt der alte Luma Tersiev, „werden auch wir hier in den Bergen so modern wie die Leute in den Städten. Aber diese Zeit werde ich nicht mehr erleben.“ Was genau Herr Tersiev unter Modernität versteht, das muss er uns allerdings noch unbedingt erzählen. Ist er doch selbst einmal in den Genuss der technischen Errungenschaften der Zivilisation gekommen, und das war „die wirklich allerallerkomischte Sache“, die ihm je passiert ist.

Zum Beweis greift Luma unter sein Bett und bringt eine Fotografie zum Vorschein. Das Bild zeigt ihn inmitten einer lächelnden Schar schlitzäugiger Asiaten. Japaner, die vor vier Jahren bei ihm auf der Matte standen. „Drei Tage waren die hier. Die haben einen Film gedreht über mich“, sagt er stolz. Dann steht er auf und zeigt uns, wo die Kameras surrten, wo die Beleuchtung stand, wo überall Kabel herumlagen. Er schüttelt noch immer den Kopf. „Das hättet ihr sehen müssen. Das könnt ihr euch wirklich nicht vorstellen. Ihr glaubt gar nicht, wie technisch diese Japaner sind.“

Der 106-jährige spürt, dass seine und vielleicht auch die Zeit der Hundertjährigen bald abgelaufen sein wird. „Ihr müsst mich vorher noch mal besuchen. Aber wartet nicht so lange. Denn ich habe mein Lied gesungen.“ Und dann stößt Luma Tersiev wieder einen seiner Flüche aus, einen der allersattesten Art. Huren und Heilige ruft er an, schimpft auf den Arsch von weiß Gott wem, hält sich den Bauch vor Lachen, und es platzt aus ihm heraus: „Ich will euch mal was sagen. Es war einfach genug. Ich will sterben. Die verdammte Scheiße ist nur, ich kann noch nicht.“
1991/92