Pakistan: Die Lepraärztin Ruth Pfau

Ruth Pfau

 

 

 

 

„Der Mensch
ist zur Freiheit
geboren“

Frühmorgens, wenn über den Dächern der Stadt die Aasvögel krächzend ihre Kreise ziehen, wenn die Ratten wieder in ihre Schlupflöcher huschen und der faulige Müll vom Vortag zu stinken beginnt, geht eine kleine, zierliche Frau zielstrebig durch die Straßen von Karachi. Noch ist es ruhig auf ihrem morgendlichen Weg zur Kirche Sankt Patrick. Noch ist die schwüle Hitze halbwegs erträglich. Die 13-Millionen-Metropole der Islamischen Republik Pakistan dämmert dem Ende der Nacht entgegen. Kein überladener Bus quetscht sich durch das Verkehrsgewühl, kein schrottreifes Auto hupt sich den Weg frei, kein Diesel verpestet die Luft. Die Rikschafahrer dösen gähnend auf den Ladepritschen ihrer Transportkarren, und auf den schmutzigen Trottoirs kauern die obdachlosen Pflasterschläfer wie abgelegte Leinensäcke. Auf den Stufen einer Treppe liegt ein junges Mädchen, die Haut schrundig, das Haar verfilzt. Für einen Moment hält die Kirchgängerin inne. „Schon seit Tagen schläft dieses Kind hier“, sagt sie. Und wenn die Ärztin Ruth Pfau diesen Satz ausspricht, klingt er nicht wie ein gleichmütiger Kommentar über ein trauriges menschliches Schicksal. Eher wie die stille Bekundung eines Mitgefühls, das frei ist von sentimentaler Rührung und billiger Empörung.
 
Dr. Ruth Pfau wird das Mädchen im Straßenstaub nicht vergessen. „Der Mensch hat ein Recht auf Würde und Glück, er ist nicht dazu geboren im Schmutz zu kriechen“, sagt sie später im Kreis einiger Mitarbeiter des Marie Adelaide Leprahospitals und fragt: „Was können wir für dieses Kind tun?“ Und es scheint, als verdichte sich in dieser schlichten Frage ein ganzes Leben, das Leben einer weltberühmten Lepraärztin und einer außergewöhnlichen Frau. Eigentlich war Karachi für Ruth Pfau nur als kurzer Zwischenstopp eingeplant. Das war 1960. Die gebürtige Leipzigerin, die nach dem Krieg der damaligen Ostzone den Rücken kehrte um in Mainz und Marburg Medizin zu studieren, wollte über Pakistan weiter nach Indien. Die „pöbelhafte Bizeps-Kultur“ unter den Nazis hatte ihre Heimatgefühle ebenso erkalten lassen wie die tumbe Religionsfeindlichkeit der kommunistisch gewandelten Volksgenossen. Ihren Hunger nach Nahrung für die Seele konnten die Fleischtöpfe des deutschen Wirtschaftswunders nicht stillen. Sie wollte nicht mitschwimmen auf einer selbstsatten Fresswelle, wollte weg von einer öden Konsumkultur und von der brennenden Frage vieler Studienkollegen: „Käfer oder Opel“. 1957, ein Jahr nach ihrem Staatsexamen, brach sie mit der Aussicht in eine der gängigen Frauenrollen zu schlüpfen, als Ehegattin, Hausfrau und Mutter. Oder als Akademikerin, die, so Frau Pfau, „sich damals noch über die Zahl ihrer männlichen Verehrer definierte.“ Stattdessen trat sie einer katholischen Ordensgemeinschaft bei. Der etwas fromm anmutende Name “Töchter vom Herzen Mariä“ täuscht. Der Orden bot Ruth Pfau die Chance, als Medizinerin zu praktizieren, ohne Tracht und klösterliche Klausur, dafür aber mitten drin im Leben.

„Ich musste einfach raus aus aller kleinkarierten Enge“, sagt sie, „und zwar nach Asien, dorthin, wo man am Tag von einer Handvoll Reis lebt.“ Doch als die junge Ärztin mit ihrem Koffer voll Idealen und bekleidet mit einem dicken Wintermantel in dem Glutofen der pakistanischen Hafenstadt Karachi aus dem Flieger stieg, landete sie in der harten Wirklichkeit. Ein Schock. „Mich packte das Entsetzen, in welchem Anflug geistiger Umnachtung ich freiwillig in diese Einöde gehen konnte.“ Hier bleibst du nicht, war ihr erster Gedanke. Doch dann geschah etwas Wunderbares, für das Ruth Pfau in ihrer Autobiografie „Verrückter kann man gar nicht leben“ die Worte findet: „Es war, wie wenn man seine große Liebe trifft.“

Sie fand diese Liebe an einem Ort, den die Einheimischen mieden wie die Pest. Ihre Mitschwestern führten sie zu den Bretterverschlägen in der McLeod Road, einem finsteren Viertel unweit des Hauptbahnhofs. Dort hausten sie zusammengedrängt in einer schrecklichen Stätte des Elends: die Leprösen, die Aussätzigen von Karachi. „Es war wirklich unvorstellbar“, erzählt Frau Pfau, „dieser bestialische Gestank, der Schweiß und der süßliche Haschischqualm. Und dazwischen die nackte Trostlosigkeit, Leprakranke mit verstümmelten Glieder, von Ratten angenagt. Und Fliegen, überall diese widerlichen Fliegen.“ Mitgefühl aber auch eine schier unglaubliche Wut auf diese Zustände stiegen damals in der Ärztin hoch. Am Schlimmsten war: „Die Menschen krochen herum wie geprügelte Hunde und niemand regte sich auf. Kein Aufstand, keine Auflehnung. Nichts dergleichen. Die Kranken sagten Ja zu ihrer eigenen Entwürdigung. Sie akzeptierten klaglos, dass man sie aus der Gemeinschaft der Lebendigen ausgestoßen hatte.“ In dieser Hölle der Erniedrigung stellte sich Ruth Pfau die Alternative „Gehen oder Bleiben“ nicht mehr. Sie wusste, hier und nirgendwo sonst auf der Welt war ihr Platz.

Ihre ersten Patienten operierte sie in einer stickigen Bretterbude. Doch die Lepra als sozialer Aussatz erwies sich als weitaus grausamer als das körperliche Leid, das scheinbar harmlos beginnt. Auf der Haut bilden sich helle Hautpartien, die irgendwann gefühllos werden. Die Flecken wachsen und breiten sich aus, bis Hände, Füße und Gesicht regelrecht absterben. Die Infizierten verletzen sich an den tauben Gliedmaßen, schneiden sich ins nerventote Fleisch, verbrennen sich, ohne Schmerzen zu empfinden. Eitrige Entzündungen sind die Folge, schlimme Entstellungen und schleichende Erblindung. Vor allem aber die Brandmarkung als Aussätzige. „Kein Mensch in Karachi hätte uns damals auch nur einen Schuppen für ein Spital vermietet“, so Ruth Pfau. „Keiner wollte die Leprösen als Nachbarn haben.“

Und heute? Das Marie Adelaide Leprazentrum im Herzen Karachis gilt als das beste Krankenhaus der Stadt und als renommierteste Lepraklinik der Welt. Mit über 150 medizinischen Versorgungsstationen in ganz Pakistan bekamen Frau Dr. Pfau und ihre hervorragend ausgebildeten Lepraassistenten die Krankheit flächendeckend in den Griff. Solidarische Begleitung und großzügige finanzielle Unterstützung kam dabei aus der Bundesrepublik. Seit Jahrzehnten helfen Freundeskreise und Spender über das „Deutsche Aussätzigen Hilfswerk“ in Würzburg Ruth Pfau bei ihrer kompromisslosen Lepra- und Tuberkulosearbeit Über 46.000 Kranke wurden bislang behandelt (Stand: 1999). Wegen der langen Inkubationszeit der Lepraerreger jedoch, die mitunter nur wenige Monate bisweilen jedoch Jahrzehnte dauern kann, kommen jährlich gut 1000 Neuerkrankungen hinzu. „Zwei Generationen“, so schätzt die Initiatorin, „müssen wir noch am Ball bleiben, um die Lepra in Pakistan wirklich auszurotten.“

Als sich nach unsäglichen Strapazen die medizinischen Erfolge einstellten, wurde Dr. Ruth Pfau mit Auszeichnungen überschüttet. Längst ist sie Ehrenbürgerin Pakistans. Als Regierungsberaterin für das nationale Lepra- und Tuberkulosekontrollprogramm genießt sie den Rang einer Staatssekretärin. Auf die damit verbundenen Machtprivilegien der islamischen Männerkultur, einen schmucken Dienstwagen oder die kuriose Erlaubnis öffentlich eine Schusswaffe zu tragen, verzichtet die Ordensfrau gern. Und als sie der deutsche Botschafter einst hocherfreut anrief, um ihr die Verleihung des Großen Bundesverdienstkreuzes mitzuteilen, schlug sie vor, den Ehrenorden von einem Fahrer abholen zu lassen. Dennoch: Ruth Pfau ist keine Frau, die ihr Licht unter den Scheffel stellt. Als selbstbewusste Christin, die sich erst als junge Erwachsene taufen ließ, weiß sie, dass die mangelnde Selbstachtung keinem Menschen nützt. Vor allem nicht ihrer Vision, ihrem großen Lebenstraum von Freiheit und Glück. „Wozu sonst ist der Mensch geschaffen.“

„Ich bin nicht hierher gekommen um Bakterien abzutöten und um Tabletten zu verteilen. Ich bin hier um Menschen zu heilen.“ Erfolge misst Ruth Pfau nicht an Heilungsstatistiken zahlengläubiger Gesundheitsbehörden, sondern an der Entwicklung menschlicher Qualitäten. Sie lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie keinen Krieg gegen bakterielle Krankheitserreger, sondern einen leidenschaftlichen Kampf für die Menschen führt. Und manchmal auch gegen sie. Sie rieb sich an engstirnigen Bürokraten, plagte sich ab an korrupten Staatsdienern und „zu vielen Männern, bei denen das Bewusstsein unterhalb der Gürtellinie hängt“. Doch sie fand auch Warmherzigkeit, Menschenfreundlichkeit und freigebigen Großmut. „Ein Leben in Fülle“, nennt sie das. Und zwar in einem Land, „wo noch leidenschaftlich geliebt und abgrundtief gehasst“ wird. Ein prallvolles, ein sattes Leben, überquellend mit Geschichte und Geschichten. Viele gingen gut aus, manche nicht. Bei manchen ist das Ende noch offen. So wie das Schicksal jenes Kindes, das im Marie Adelaide Zentrum unter der Akte OR 3965 geführt wird.

Die hellen Flecken in Razias Gesicht weiß nur das geschulte Auge zu deuten. Auf den simplen Test mit einem Kugelschreiber reagiert das Mädchen nicht. Die Stiche in die tauben Hautstellen spürt Razia nicht. Und die sind bereits überall auf ihrem Körper. Razia ist durch und durch mit dem „Mycobacterium leprae, Typ BL“ infiziert, der schmerzhaftesten und ansteckendsten Form der Lepra. Ihre Füße, die Kniegelenke, die Ellenbogen, alles schmerzt. Razia kann sich kaum noch bewegen. Und sie hat Angst. Die Furcht hat sich tief in ihr Gesicht eingegraben, das viel zu alt aussieht für ihre zwölf Jahre. Ihre Chancen auf eine völlige Genesung stehen fünfzig zu fünfzig. Auf die Frage, warum er sein Kind nicht früher bei den Lepraasssistenten gemeldet habe, entschuldigt sich Razias Vater wortreich. Er habe den letzten Goldschmuck der Familie versetzt, beklagt Haji Safar, habe sein Geld zu lauter falschen Ärzten gebracht und viel zu viele Rupien für schlechte Medikamente ausgegeben. Sogar zu einem heiligen Schrein sei er gepilgert um zu Allah für seine Tochter zu beten. Razia schweigt zu den Worten ihres Vaters. Als Kind hat sie nicht viel zu sagen, als Mädchen gar nichts. Nur in einem unbeobachteten Moment verrät sie ihren stillen Herzenswunsch: „ein eigenes Haus“, das heißt im Klartext: weg von hier, mit einen guten Ehemann und einer neuen Familie.

„Wenn Frauen Lepra haben, schlagen die Mechanismen der sozialen Ächtung viel härter zu als bei Männern. Ein geheilter Patient findet meistens eine Ehefrau. Eine lepröse Frau jedoch will niemand“, so die bittere Erfahrung Ruth Pfaus. Zu viele geächtete und geschundene Frauen hat sie getroffen, in den entlegendsten Bergdörfern des Hindukusch ebenso wie in den Bürgerkriegszonen Afghanistan oder mitten in Karachi. Und wenn Frau Pfau von Adina erzählt, die als junges Mädchen von ihren Eltern in einen engen Kerker eingemauert wurde, oder von Saskia, die zwanzig lange Jahre bis zur Unkenntlichkeit entstellt in einem Stall siechte, oder von jener jungen Frau, die ihr Ehemann in Karachi unlängst mit Kerosin überschüttete und anzündete, dann spürt man: Ruth Pfau verströmt als Ordensschwester vom Herzen Marias nicht nur eine Alles verstehende und immergütige Sanftmut. Oft blitzt er auf, ihr heiliger Zorn. Und der entspringt ihrer Liebe zur menschlichen Freiheit ebenso wie einer tiefen Abscheu gegen ein Unrecht, das immer die Schwächsten trifft: die Kinder und die Frauen, die im öffentlichen Leben der Islamischen Republik Pakistan nur ein Schattendasein fristen.
 
Keine Frage, Ruth Pfau liebt ihre Wahlheimat Pakistan, doch sie verzweifelt auch manchmal an sturer Verbohrtheit, an blödem Männlichkeitsgehabe und der Verherrlichung von Gewalt.

Die fatale Macht von Waffen in den falschen Händen hat Frau Pfau oft genug und leidvoll erfahren müssen. Im Sommer 1995 drangen Jugendliche mit Maschinengewehren in die Lepra- und Tuberkulosestation im nordpakistanischen Bergstädtchen Gilgit ein. Ohne erkennbaren Grund bedrohten sie die Mitarbeiter. Ruth Pfau, die sich schützend vor ihre Leute stellte, wurde in eine Ecke geschleudert. Hilflos und mit gebrochenem Arm musste sie zusehen, wie die jungen Kerle Salven aus ihrer Kalaschnikow durch eine verschlossene Toilettentür jagten. Dahinter hatten sich Leprahelfer und Patienten aus Angst verschanzt. Der sinnlose Überfall kostete fünf Menschen das Leben. Zum Erstaunen der ermittelnden Militärbehörde verzichtete Ruth Pfau auf eine Identifizierung der Täter. „Die waren von religiösen Fanatikern aufgehetzt. Man hätte sie aufgehängt und wir hätten noch ein paar Tote mehr gehabt.“ Auch die Söhne eines ermordeten Mitarbeiters konnte Ruth Pfau nach langen Gesprächen bewegen, auf ihr Recht zu verzichten: die Rache für das Blut ihres Vaters.

„Die Tinte für unsere Schüler ist wichtiger als das Blut unserer Märtyrer“, hat jemand an eine Hauswand in Karachi geschrieben. Ein schöner Satz. Doch er kommt nicht an gegen den blinden Taumel fanatisierter Massen, wenn die Nation dem indischen Nachbarn einmal mehr mit der Zerstörungskraft ihrer Atombomben droht. Nicht die Gefechte während der militärischen Auseinandersetzungen zwischen Indien und Pakistan kosteten die 45-jährige Rehana Hamid fast das Leben, sondern der Umstand, dass in der umkämpften Kaschmir-Region Leprakontrollen in den letzten Jahren unmöglich waren. „Eine solch schwere Erkrankung habe ich seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen“, erklärt Frau Pfau. Rehana wurde diesen Sommer in das Marie Adelaide Lepra-Hospital im Zentrum Karachis aufgenommen, mit entstellten Gliedern, akutem Nierenversagen und lebensbedrohlicher Blutarmut. Ihre Tochter Shaheen weicht keine Minute vom Bett ihrer pflegebedürftigen Mutter. Die 18-Jährige Shaheen ist überzeugt: „Meine Mutter wurde krank, weil eine Nachbarin einen bösen Blick auf sie geworfen hat.“

„Vergessene Menschen von denen niemand mehr spricht“, so Frau Pfau, leben am Rande Karachis in der armseligen Lagersiedlung „New Afgan Camp“. Die meisten von ihnen sind zivile Opfer des Krieges gegen die afghanischen Taliban. Im Staub ihrer Lehmhütten sind die Flüchtlinge von jeglicher staatlicher Unterstützung abgeschnitten. Halbwegs trinkbares Wasser kann man nur kanisterweise kaufen. Es gibt keinen Strom, kaum Essen, keine Medikamente. Dafür grassieren die Krankheiten der Armut, allen voran die Tuberkulose. Ruth Pfau und ihre Mitarbeiter sind die einzigen, die sich in dem Lager noch um die Gesundheit der Menschen sorgen: um Ismail und seinen 18-monatigen Sohn Dada Khuda, den stümperhafte Ärzte für den Rest seines Leben zum Krüppel gespritzt haben. Um die Frauen Barfe und Nur Bibi, die an grauem Star erblindet sind und denen eine einfache Operation das Augenlicht zurückgeben kann. Oder um den kleinen tuberkulosekranken Kaleem, der ohne die rettende Medizin sein erstes Lebensjahr mit Sicherheit nicht überlebt hätte.

Die Arbeit in Pakistan ist schwieriger geworden. Und auch gefährlicher. Seit dem terroristischen Anschlag auf das New Yorker World Trade Centre hat sich das Klima in Pakistan verschlechtert. „Der Afghanistankrieg der USA hat einen religiösen Fanatismus und eine politische Unruhe ausgelöst, die unsere Arbeit nicht leichter machen.“ In manchen Stadtteilen Karachis sind die Einsätze der Lepra- und Tuberkuloseassistenten des Marie Adelaide Zentrums mit hohen Risiken behaftet. „Das unterschwellige Gefühl der Bedrohung zerrt an den Nerven“, so Ruth Pfau. „Man weiß nie, wo die nächste Bombe hochgeht.“

Ruth Pfau könnte auf die Früchte eines erfüllten Lebens zurückblicken. Aber Ruth Pfau schaut nicht zufrieden zurück. Ihr Blick in die Zukunft ist belastet mit dem Wissen, dass jeder Sieg über Krankheit und Leid neue Fronten eröffnet, die es erfordern für die Menschen zu kämpfen. Nur manchmal denkt sie ein wenig wehmütig an die erfüllten Jahre „im Feld“ zurück, an die tagelangen Fußmärsche in das Himalaya-Gebirge, an die grandiose Landschaft, an die wunderschönen Sonnenuntergänge und die friedvolle Stille. Über Wochen mit dem Landrover unterwegs zu sein zu den Kranken, dass ist heute die Sache jüngerer Generationen, die bei Ruth Pfau in die Lehre gegangen sind. „Meine Aufgabe besteht darin, all jene Kräfte zu vernetzen, die an der Lösung der drängenden Probleme der Gesundheit, Aufklärung und der Menschenrechte beteiligt sind. Und darin die Mitarbeiter immer wieder zu motivieren, sich ihre Utopien zu bewahren. Für die Freiheit und für das Glück der Menschen.“

Was Ruth Pfau unter Glück versteht, zeigt sich in Karachi in dem Wohnheim „Sultanabad Town Sektor III“. Hier leben schwerbehinderte Lepraopfer, die viel zu spät die rettenden Medikamente erhielten. Menschen wie Nasiba. Sieben Jahre war sie verfemt. Von Dorf zu Dorf wurde die Frau gejagt, und die Leute hetzten wilde Köter auf sie. Leprabakterien hatten ihr Gesicht zerfressen und sie erblinden lassen. Doch Nasiba hört gut. Sofort erkennt sie ihre Freundin Ruth an der Stimme. Die beiden Frauen fallen sich in die Armen und Tränen der Freude rinnen über Nasibas entstelltes Gesicht. Sie ist glücklich. Und sie ist schön. Und es ist, als offenbare in diesem Augenblick der Begegnung ein kleines Lied all seine Wahrheit. Es ist ein alter französischer Chanson. Er singt von „dem hässlichen Gesicht, das noch keiner geküsst hat.“ Die Erinnerung an dieses Lied hat Ruth Pfau einst aus Europa mitgebracht, als sie 1960 in Paris in ihr Flugzeug stieg und in Karachi eigentlich nur zwischenlanden wollte.
Für DAHW, 1999 und 2004