Deutsch-Weisskirch:
vom sterbenden Dorf zum Weltkulturerbe
Wenn Sara Dootz das Füllhorn ihrer Geschichten ausgießt, lauschen alle, berauscht von fernen Tagen, als „ein Mannsbild noch ein wildes Tier war und eine Hochzeit noch sieben Tage währte“. Wir erfahren, dass die Dorffrauen für die Festsuppe fünfzig Hühner köpften, den Hochprozentigen in Eimern anrührten und sich beim Kirschlikör vergnügten, während ihre Männer längst trunken unter den Tischen lagen. „Die Zeiten waren karg“, sagt die 78-Jährige, „aber die Menschen in Weisskirch waren zufriedener. Glücklicher auch.“ Niemand musste „gegen überflüssige Pfunde Fitness machen“, und sie selbst erbrachte den Beweis, dass sechs Jahre Schule ausreichen, „um für das Leben gerüstet zu sein“. Was Saras Töchter Caroline und Gerhild heute allerdings ein wenig anders sehen.
Das sächsische Deutsch-Weisskirch, das rumänische Viscri, liegt in Siebenbürgen im Herzen der Karpaten. Man erreicht den Ort, wenn man die Europastraße 60 Richtung Süden nimmt, in Bunesti rechts abbiegt und einer Schlaglochpiste folgt. Wenn sich die Befürchtung andrängt, im Nirgendwo zu enden, taucht zwischen den Hügeln das 450-Seelen-Nest auf. Hätte die UNESCO Weisskirch nicht die Weihen des Weltkulturerbes verliehen, kaum jemand würde sich hierher verirren. Außer Charles, der Prince of Wales. In den Neunzigern entdeckte er den Weiler, dem das Schicksal drohte, das damals Hunderte von Sachsendörfer ereilte: verlassen, verfallen, vergessen. In Weisskirch fand der britische Thronfolger einen Garten ohne Gärtner. Was die Instinkte des Bewahrers und Beschützers weckte. „Wenn früher der Prinz auftauchte, stand das Dorf Kopf“, sagen die Leute. „Heute bellen nicht mal mehr die Hunde.“
Ein Blick zurück: Ende der achtziger Jahre verfiel der Diktator Nicolae Ceausescu dem Wahn, die Hälfte der 13.000 Dörfer in Rumänien dem Erdboden gleichzumachen. Die Landbevölkerung sollte in die Plattenbauten agroindustrieller Komplexe umgesiedelt werden. Doch der Irrsinn blieb unvollendet. Unvergessen ist die historische Szene, als ein Exekutionskommando an Weihnachten 1989 dem verhassten Ehepaar Ceausescu den Garaus machte. Die Hinrichtung bewahrte Weisskirch davor, von der Landkarte zu verschwinden. Den Massenexodus der Deutschen verhinderte sie nicht. 100.000 Sachsen verschleuderten ihre Häuser zu Spottpreisen und hinterließen fast 200 mittelalterliche Kirchenburgen.
Wie ein Wächter thront die Wehrkirche über Weisskirch. Über einem Steinbecken aus dem Jahr 1140 ließen glaubensstarke Generationen früher ihre Kinder taufen. Heute erklärt die Sächsin Sara Dootz den Besuchern, dass die meterdicken Mauern ihren Landsleuten einst Schutz vor den brandschatzenden Türken boten. Heute droht der Feind des Kommerzes, weshalb die Hüterin des Burgschlüssels ihre Kirche gegen allzu forsche Geschäftsideen verteidigt. Ein Burgcafe etwa. „Ein Lokal, wo man Bier trinkt und Speckbrote verzehrt, das kommt mir nicht vor. Die Kirche ist ein heiliger Ort.“ So atmet das sakrale Gemäuer denn noch immer den Geist der Vergangenheit. Wenn der evangelische Pfarrer als „Stellvertreter des Herrgottes“ predigte, so Sara, „verstummten die Kinder vor Ehrfurcht“. Wozu es nur zweier Worte bedurfte: Zunge und Schere.
„Gehen oder bleiben?“ Auch Saras Töchter Caroline und Gerhild standen 1990 vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens. „Eine Familie nach der anderen zog in die Bundesrepublik“, so die damals 21-jährige Gerhild. „Ich habe das nicht ertragen. Es tat zu weh, zu sehen, wie unser Dorf starb. Als dann noch der Pfarrer von der Kanzel verkündete, den Letzten beißen die Hunde, zog auch ich mit. Schweren Herzens. Nach München.“
Caroline und ihr Mann Walter Fernolend blieben. Von allen belächelt. Das rückständige Weisskirch, mit Ziehbrunnen, Plumpsklos und einem einzigen Telefon zum Kurbeln, schien keine Zukunft zu haben. Von den 300 Sachsen blieben zwei Dutzend. „Mit einem Schlag verloren wir alle Freunde“, erzählt Caroline. „Das war eine harte Zeit. Aber wir hatten eine Vision. Wir wollten unserem Dorf wieder zur Blüte verhelfen. In Deutschland wartete niemand auf uns. Hier aber wurden wir gebraucht.“ Seit über zwanzig Jahren wählen die Bewohner die 51-Jährige zur Ortsvorsteherin. „Im Sozialismus hatten wir verlernt, selbstständig zu denken und Initiativen zu ergreifen. Das Vertrauen in das Leben mussten wir erst wieder gewinnen.“ Die Zuversicht wurde belohnt. 1999 erklärten die Vereinten Nationen Weisskirch zum Weltkulturerbe. Caroline erhielt den Europa-Preis. Seitdem ist sie, wie ihre Mutter erklärt, „jetzt prominent, aber auch immer in der Politik auf Achse“.
Unterstützung findet Caroline bei Prinz Charles. Als Schirmherr der Eminescu-Stiftung setzt er sich für die Wiedergeburt der Kulturlandschaft in Siebenbürgen ein. Ohne die Fürsorge des Briten wäre von dem deutschen Erbe in Weisskirch nichts geblieben als die Namen auf den Grabsteinen: Gräf, Fernolend, Schuster, Suttner, Wagner. Bislang wurden Dutzende alter Sachsenhöfe renoviert. „Wir achten darauf, dass nicht lieblos Beton hingekippt wird, sondern benutzen traditionelle Baumaterialien wie Lehm, Sand und Kalk, Ziegel und Holz“, betont Caroline. „Und zur Klärung der Abwässer dienen Schilfseen im unteren Dorf.“ Seit Viscri den Beweis lieferte, dass die biologische Variante der Abwasserklärung nicht nur effizient, sondern auch sehr viel kostengünstiger ist als traditionelle Kläranlagen, berät Caroline als Vertreterin der Eminescu-Stiftung neuerdings den rumänischen Umweltminister.
Ihrer Mutter Sara indes ist das überstrapazierte Attribut „ökologisch“ suspekt. Obschon sie leidenschaftlich die kleinbäuerliche Selbstversorgung verficht. Kein Apfel bleibt bei Sara Dootz ungeschält, keine Walnuss ungeknackt. Chemie ist für sie das überflüssigste Schulfach überhaupt. Mit Grausen erinnert sie, wie sie einmal gezwungen war, Kartoffeln in einem Supermarkt zu kaufen. „Die stammten aus einem Treibhaus. Als sie im Wasser kochten, roch es in meiner Küche wie in einer Apotheke.“
Statt ihr Vieh in Mastställe zu pferchen, haben die Familien aus Viscri Hirten angestellt. Wenn abends eine stattliche Herde von Pferden, Schafen, Ziegen und dreihundert Milchkühen von den Weiden ins Dorf einzieht, zücken stadtmüde Touristen ihre Fotohandys. Längst nutzen die Bewohner den Fremdenverkehr zur wirtschaftlichen Entwicklung und machen aus der Not eine Tugend. Einst als rückständig verrufen ist Weisskirch heute eine Bastion gegen den Zeitgeist. 15.000 Übernachtungen verzeichnen die Pensionen im Jahr. Besucher lieben die Ruhe und ungekünstelte Gastfreundschaft. Sicherlich lockt die regionale Küche weniger den Gourmet an als die Freunde kulinarischer Deftigkeiten. Selbstgebrannten inklusive. „Wir besitzen eine Ursprünglichkeit, die andere Länder verloren haben“, sagt Caroline. Welches Kapital die Urwüchsigkeit birgt, hat sich allmählich herumgesprochen. Dreißig ehemalige Sachsendörfer haben Caroline bereits eingeladen, um zu erfahren, wie sich die Vergangenheit für die Zukunft nutzen lässt.
„Unsere Vorfahren haben die Kirchenburgen für sich und ihre Kinder gebaut. Wir müssen unser Erbe an jene weitergeben, die geblieben sind.“ Und an die, die kommen. Um der Tretmühle aus Arbeit, Karriere und Stress zu entfliehen, zogen Annette Schorb und Roman Gihr vor fünfzehn Jahren von München in die Karpaten. Die Zahnärztin und der Landschaftsarchitekt erwarben einen maroden Sachsenhof und schufen sich in Weisskirch ein archaisch kultiviertes Zuhause, mit Kaminofen und Klavier, mit Pferden im Stall und Brennholz im Hof. Und mit viel Engagement für die Ärmsten in ihrer Wahlheimat.
Waren die Roma 1990 in dem Völkergemisch aus Rumänen, Sachsen und Ungarn in Weisskirch eine Minderheit, so stellen die Tzigani, wie sie sich nennen, heute das Gros der Bevölkerung. Stolz ist man in Viscri, dass die Kinder der Zigeuner ausnahmslos alle die Volksschule zu besuchen. Sorgen jedoch bereiten die älteren Mädchen. Der Übergang zur neunten Klasse, das Tor zu einer Berufsausbildung, markiert für sie eine unüberwindliche Hürde. „Mit vierzehn werden viele schwanger“, beobachtet Annette Schorb immer wieder, „dann ist es mit der Schule vorbei.“ Zudem liegt die weiterführende Schule in der Stadt Rupea. Die Kosten für den Bus müssen die Eltern tragen. Dafür fehlt das Geld. Die Folge: Eine ganze Generation hockt herum, von niemandem gebraucht, zur Untätigkeit verdammt.
Um das zu ändern, schlossen sich die Frauen aus Weisskirch zusammen. Die Neubürgerin Annette steht dem Verein Viscri Incepe vor, der schon mit dem Namen signalisiert: „Wir starten los“. Über sechzig Frauen stricken und filzen regelmäßig: Socken, Pantoffeln und Hüte. Verkauft wird die Ware im Laden des Frauenvereins. Und auf Bestellung. Immerhin vertrieben ehrenamtliche Helfer in Deutschland 2013 rund 30.000 Paar Socken und Filzschuhe. Von dem Erlös finanzieren die Frauen den Schulbus für die älteren Schüler und unterstützen zudem den Nachhilfeunterricht für lernschwache Kinder. „Ideen für die Zukunft haben wir auch“, sagt Mariana Purghel, die für den Laden verantwortlich ist. „Bunatati din Viscri heißt unser Markenlabel. Gutes aus unserem Dorf. Eine Käserei ist geplant. Zudem verkaufen wir Honig und hausgemachte Marmelade. Früchte und Beeren gibt es hier massenhaft. Und umsonst.“
Caroline jedoch weiß, dass aufkeimender Wohlstand eine „echte Gemeinschaft“ nicht ersetzt. Das Erbe der Weltkultur lockt Touristen an, eine lebendige Gemeinde schafft die Vergangenheit nicht. Dreizehn Jahre lebte ihre Schwester Gerhild in Deutschland. Goldene Wasserhähne soll sie dort gehabt haben, behaupten die Rumänen. Dennoch kehrte sie zurück, in ihren Geburtsort, von dem sie sagt: „Hier ist mir jeder Strauch und jeder Stein vertraut. Hier bin ich glücklich.“ Wenn Gerhild heute an Sonntagen die Kirchenorgel spielt, findet sich nur noch ein Dutzend Sachsen zur Messfeier ein. Ihre Mutter Sara kann sich damit nur schwer abfinden. „Man muss laut mitsingen und sich vorstellen, die Kirche sei voll.“
In Wehmut jedoch verliert Sara Dootz sich nicht. Lächelnd schwärmt sie von dem berühmtesten Gast ihres Heimatdorfes. „Ganz fest haben wir uns in die Arme genommen“, erzählt sie von ihrer ersten Begegnung mit dem Prince of Wales, der in Weisskirch einen kleinen aber feinen Sachsenhof besitzt. „Ganz fest haben wir uns in die Arme genommen. Sara, wir verstehen uns mit dem Herzen. Das hat der Charles gesagt. Wortwörtlich. Auf Deutsch.“ Natürlich ist es kein Zufall, dass Sara und Charles am selben Tag im November ihren Geburtstag feiern. Dann ruft er an. Die Sächsin jedenfalls ist davon überzeugt, der Royal sei bei seiner Geburt „nicht ins richtige Nest gefallen“ und wäre ihrer Obhut zweifelsfrei besser aufgehoben. Zumal Charles Leibkoch gegen ihre legendäre Hühnersuppe nun wirklich nicht anrühren kann.