Was heißt hier heimisch?

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Grafik: Olga-Maria Klassen

Vom Suchen, Finden und Verlieren und von der Sehnsucht anzukommen

Verwaist hingen die Fotografien an der Wand, kaum beachtet. Vielleicht weil ihre schwarzweiße Schlichtheit keine Aufmerk­sam­keit forderte. Vielleicht weil die Motive dem Publikum zu rückständig schienen, zu deplatziert für eine Galerie: Windschiefe Holz­hütten, verlassen und verfallen; kaputte Traktoren, rostende Kähne am Ufer eines Flusses, dazwischen Menschen, die noch im Gestern lebten, inmitten einer Landschaft mit zwei Gesichtern – himmelwärts offen im lichten Sommer, dumpf und müde im frostigen Winter.

Die Bilder waren vor einigen Jahren in der Kunstakademie im westfälischen Münster zu sehen, wo sich die Studierenden stets zum Jahresbeginn mit ihren Werken präsentieren. So wie Olga-Maria Klassen. Ihre Arbeiten waren keinem avantgardistischen Kunst­konzept verpflichtet. Eher der Idee des Behütens, des Bewahrens der Erinnerung an eine verschwindende Welt. Dem flüchtigen Blick mochte diese Welt archaisch und erdig vorkommen, idyllisch wo­möglich, doch dahinter wehte eine melancholische Verlorenheit heran, eine seltsame Ortlosigkeit, entkoppelt von Raum und Zeit. Olga-Maria Klassen stellte sich als Russland­deutsche vor, deren Vorfahren einst im Ural zwangsangesiedelt wurden. Nun arbeitete sich die junge Künstlerin an den Stätten ihrer Kindheit ab. An einem sterbenden Dorf. An ihrer Heimat.

Sie erzählte von Russland, von Borowaja, einer Siedlung ohne Elektrizität, wo die Leute im Sommer Beeren sammeln, im Herbst Pilze suchen und sich im Winter nach der Sauna bei minus fünfzig Grad im Schnee wälzen, bevor sie einander beim Wodka alte Ge­schichten erzählen: von Geistern, Hexen und von bösen Weibern, vor deren Zauber man sich am besten mit dem Kruzifix schützt.

Natürlich schätzt Olga-Maria Klassen die zivilisatorischen Vorzüge ihrer Wahlheimat Münster. «Eine angenehme, weltoffene und lebenswerte Stadt.» Dennoch klafft ein Graben auf. «Es ist nicht leicht», sagt sie, «in der Enge einer Großstadt heimisch zu werden, wenn man in der Weite der Taiga aufgewachsen ist.» Vorschnell ließe sich der Konflikt mit Anpassungsschwierigkeiten erklären, mit der Kluft von Stadt und Land, mit dem Aufeinanderprallen von Natur und Kultur. Aber Olga-Maria Klassens Zerrissenheit war von anderer Art. Sie entsprang einer Trennung, einer Differenz: zwischen dem Ort, an dem man lebt, und dem Ort, den man liebt. Die Heimat!

Sie wird gesucht, gefunden und verloren, wird verklärt, verkitscht, verraten und bisweilen auch verflucht. Schon der Begriff der Heimat ist so umstritten wie umkämpft. Sein Terrain gleicht einer okkupierten Zone, in Beschlag genommen von Vereinsmeiern und Lokalpotentaten, pervertiert von einer volkstümelnden Gute-Laune-Industrie, die kalkulierte Sentimentalitäten als echte Gefühle verhökert. Nicht zu vergessen die Kehrseite der Verlogenheit, wo der Heimatgedanke als ewig gestrig verunglimpft wird. Für die Ideologen ungehinderten Wirtschaftens ist jede Heimatbindung ein Hemmnis. Benötigt werden Menschen als manövrierbares, dauermobiles Humankapital, das sich überall und nirgends zuhause fühlt, ohne wirklich irgendwo anzukommen.

Heimat! Was auch immer ihr widerfahren mag, zuallermeist wird sie vermisst. Ja es scheint, als entfalte sich ihr wahrer Wert überhaupt erst in ihrer Abwesenheit. In der Erfahrung des Verlustes. «Am intensivsten wird sie erlebt, wenn man weg ist und sie einem fehlt. Das eigentliche Heimatgefühl ist Heimweh», schreibt der Schriftsteller und Jurist Bernhard Schlink. Er bricht mit der Vorstellung, die Heimat habe einen Ort oder sei selbst ein solcher. In einem lesenswerten Essay charakterisiert Schlink Heimat als Utopie, abgeleitet aus dem altgriechischen «ou tópia», was übersetzt «Nicht-Ort» heißt. Erst «die Erinnerungen und Sehnsüchte», so Schlink, «machen die Orte zur Heimat».

Nun trügen Erinnerungen mitunter. Bei Licht besehen leuchten die Kindertage so selig nicht mehr. Und die Jugendjahre veredelt erst die Rückschau zu einer behüteten Zeit unbeschwerten Glücks. Womöglich entpuppt sich das Heimweh bloß als der eingebildete Verlust von etwas, das wir nie besaßen, als Traum von einem Paradies, aus dem wir gemäß dem Alten Testament längst vertrieben wurden. Gewiss nähren sich die Quellen des Heimatgefühls aus Sehnsüchten, aber mehr noch aus Erfahrungen. Heimat erwächst aus jenen prägenden Momenten, in denen wir wie selbstverständlich zur rechten Zeit am rechten Ort unter gewogenen Menschen weilen, mit uns und der Welt im Einklang. Wenn wir uns aufgehoben und getragen wissen von der Liebe zum Leben, jenem Urvertrauen, das die Freiheit eröffnet, sich nicht permanent selbst neu erfinden zu müssen.

Ist Heimat dort, wo sich das Weltvertrauen bildet? Oder doch bloß ein Nicht-Ort? Utopien haben die Eigenart, entsinnlicht und blutleer zu sein. Ihre Substanz verflüchtigt sich im reinen Denken. Utopien riechen nicht. Sie haben weder Farbe noch Geschmack. Und auch keinen Ton. Utopien duften nicht nach frischem Heu, nach Wald, nach Laub und feuchtem Moos. Da singt kein Vogel, da rauscht kein Meer, schon gar nicht hupt ein Auto. Warum verströmen Heimatfilme nie den Geruch von Asphalt und Benzin? Warum pulsiert in ihnen nicht der Herzschlag der Metropolen? Als könnten Paris, New York oder Berlin zwar Wohnsitze, aber nicht Heimat sein.

Wo auch immer wir Heimat suchen oder finden, als «Gast auf Erden» wandern wir, wie es in einem katholischen Kirchenlied heißt, «der ewigen Heimat zu». Ob dem so ist, wird sich zeigen. Zuvor jedoch, bei der Suche nach den vergänglichen irdischen Heimstätten, gerät des Öfteren etwas in Vergessenheit, an das Olga-Maria Klassen erinnert.

In ihrer Akademiewerkstatt lagen zwischen Litho­grafien, Radierungen und Entwürfen auch recht sonderbare Utensilien: getrocknete Fische, Schuppenhäute und die Reste von Fischernetzen. Die Netze, erzählte sie, gehörten einst ihrem Groß­vater, der sie als Kind mitnahm, wenn er mit dem Boot hinaus zum Fischen fuhr. Als er starb, ließ sie sich die Enkelin die Netze aus Russland schicken. Fragmente davon arbeitet Olga-Maria Klassen in ihre Druckgrafiken ein, presst sie regelrecht hinein in ihr Werk. Nur vermag ein Fischernetz weder die Vergangenheit einzufangen, noch kann die Kunst die Relikte einer verlorenen Kindheit konservieren. Doch zwischen den Maschen eines verschlissenen Netzes bleiben Erinnerungsfetzen hängen. Sie erzählen davon, dass wir die Heimat nicht uns selbst verdanken. Wenn wir die Geborgenheit von Heimat erfahren durften, dann deshalb, weil andere sie für uns geschaffen haben.

aus:  a tempo Das Lebensmagazin, Nr 181 | Januar 2015