Interview Playboy-Magazin

Interview mit Rüdiger Winter über meine Dokumentation des Lebens der Roma in Europa

erschienen im Playboy 11/2001 

Zehn Jahre, immer wieder, haben Sie Zigeuner fotografiert. Wie kamen Sie auf dieses Thema?
1990 war ich in Rumänien und sah, wie Zigeuner im Winter ihre Häuser verheizten. Stück für Stück haben sie die Häuser verbrannt, in denen sie lebten. Zuerst die die hölzernen Fußboden-Dielen, denn die Fensterrahmen und schließlich die  Dachbalken. Von den Häusern blieb nach einem halben Jahr kaum etwas übrig. Die Nachbarn, es waren ordnungsliebende deutschstämmige Siebenbürger Sachsen, waren völlig entsetzt, wie man so was machen kann. Ich war erstaunt und auch fasziniert: Da waren Menschen, bettelarm mit  äußerst sonderbarem Verhalten, aber sie waren sehr lebendig, viel lebensfreudiger als wir. Ich wollte wissen: Was sind das für Menschen?

So fing Ihre Arbeit an? Haben Sie vorher nie etwas mit Zigeunern zu tun gehabt?
Vielleicht liegt die Wurzel für mein starkes Interesse für das Volk der Roma sehr lange zurück. Es war im Sauerland, ich war zwölf Jahre alt. Ich fuhr damals mit einem nagelneuen Fahrrad an einem Zigeunerlager vorbei, hielt an, war neugierig. Eine Gruppe Jugendlicher nahm mir das Fahrrad weg. Sie wollten es mir zurückgeben, unter einer Bedingung. Sie holten ein Mädchen in einem rosa Kleid und forderten: „Küsse sie!“  Es war ein unglaublich hübsches Mädchen, ich starrte es fasziniert an. Aber es war schmutzig, furchtbar schmutzig. Ich wollte es natürlich nicht küssen. Zwölf Jahre, ­ klar, das ist ein Alter, in dem einem Mädchen nicht zu nahe kommen dürfen. Das Bild dieses Mädchens hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Eine Schönheit im Schmutz. Ich habe sie noch heute vor Augen, in allen Details.

Aber das Rad war weg.
Ne, ne, das habe ich mir irgendwie zurückgeholt. Ohne Kuss. Damals war ich froh, dass ich türmen konnte. Gewiss konnte ich nicht ahnen, dass ich später einmal mehr als 100 Zigeuner-Siedlungen in ganz Europa besuchen und  dabei rund 20.000 Bilder machen würde.

Dabei wurden Sie, um dieses Vorurteil gleich zu bedienen, furchtbar beklaut?
Die Verluste hielten sich sehr in Grenzen: bunte Kugelschreiber, eine Sonnenbrille, einige Wollsocken und ein paar  Miles Davis Musikkassetten. Eine Ausnahme war eine teure Kamera, und die habe ich wieder bekommen. Dafür hat ein Clan-Chef aus der rumänischen Stadt Turda gesorgt. Der hat die ganze Nachbarschaft auf den Kopf gestellt, bis der Apparat wieder zurückgebracht wurde. Einem unaufmerksamen  Touristen beim Sightseeing einen Fotoapparat zu klauen läuft wohl bei manchen Zigeunern, und nicht nur bei denen, eher unter “Kavaliersdelikt“.  Dieser Diebstahl jedoch war ein Verstoß gegen die Gesetze der Gastfreundschaft. Und das ist ganz schlimm. Jemanden einzuladen und ihn zu bestehlen ist bei den Roma ein ungeheuerer Tabu-Bruch. Nein, mit  schwerer Kriminalität haben Zigeuner nichts zu tun. In vielen Fällen ist es einfach Armuts-Kriminalität, die es in allen Ländern, in allen Kulturen gibt.

Sie hatten nie Angst?
Im Gegenteil. Ich bin in den zehn Jahren bei den Zigeunern nicht ein einziges Mal bedroht worden, ich hatte nicht ein einziges Mal Furcht. Aber ich war auch nur selten alleine unterwegs, ich hatte immer einen Begleiter dabei, nicht aus Misstrauen, sondern als Dolmetscher, weil ich das Romanes, die Sprache der Zigeuner, nicht spreche.

Wie fanden Sie Zutritt zu dieser geheimnisvollen Welt?
Die Zigeuner nennen alle Menschen, die nicht ihrem Volk angehören, “Gadsche“. Das heißt soviel wie Dummkopf, Bauer oder gar Feind. Aber wenn man ihnen freundlich begegnet und echtes Interesse bekundet, dann bekommt man Zutritt. Ich war bereit, mit ihnen zu essen, bei ihnen zu wohnen, hörte ihren Geschichten zu. Sie haben gemerkt, dass ich wirklich gern mit ihnen zusammen bin. Die merken sofort, ob jemand nur schnell ein paar Fotos abzocken will.

Und Sie wurden immer freundlich aufgenommen?
Ja. Ein Beispiel: In Bulgarien, am Rande der Stadt Plovdiv, gibt es ein Zigeuner-Viertel, das heißt Stolipinovo. Es war unmöglich,  dorthin zu kommen. Kein einziger Taxifahrer war bereit, mich zu fahren. Wirklich keiner. “Die rauben dich aus! Die sind kriminell“,  warnte man mich. Ich erfuhr, dass die bulgarische Presse das Viertel nur “The Hell“ nennt, die Hölle. Als ich endlich da war, fand ich wunderbare Leute.

Wie erklären Sie sich das?
Menschen haben Vorurteile gegen vieles, was ihnen fremd ist. Zigeuner, glaube ich, lösen bei vielen Leuten Furcht vor dem totalen Absturz aus. Sie leben ja in vielen Ländern am untersten Ende der Sozial-Skala. Tiefer geht es nicht. Und wer unten ist, auf den prügeln alle ein. Wer sich dann wehrt, bestätigt nur seine Rolle als Sündenbock. Keine Chance also.

Sind manche Urteile nicht aber auch begründet?
Sicher, keine Frage. Nur wird bei den vielen üblen Vorurteilen immer das ganze Volk der Roma verurteilt. Man muss immer beide Seiten sehen. Ich habe einmal eine Reportage über einen kriminellen Zigeuner-Clan in der Nähe von Bukarest gemacht. In Bolintin wurde ein junger Rumäne von einem Zigeuner erstochen. Am nächsten Tag haben die Glocken zum Angriff geläutet: Bürger haben sich zusammengerottet und 20 Häuser von Ursari-Zigeunern angesteckt und niedergebrannt. In einigen der Häuser lebten Mitglieder einer Diebes-Bande. Meine Recherchen ergaben: Viele der Ursari-Roma saßen im Gefängnis. Nachts ließen die Polizisten sie frei, damit sie stehlen konnten. Die Beute haben sich Zigeuner und Polizisten geteilt. Die Roma waren die Stehler, die Staatsbeamten die Hehler. Nur die Männer in Uniform blieben unbehelligt. Als ich das herausfand, wurde ich von Polizisten bedroht, meine Informantin wurde in Handschellen abgeführt und aus den Reifen meines Wagens wurde die Luft gelassen. Mir wurde die Sache zu heiß und es war besser aus Bolintin zu verschwinden.

Geflohen also vor der Polizei?
Ja, vor der Polizei, nicht vor den Zigeunern.

Die Welt der Zigeuner ­ wie ist die?
Es ist eine völlig fremde Welt. Unsere Gesetze vom bürgerlichen Leben gelten dort nur bedingt. Eine faszinierende Welt, voller Freundlichkeit, Herzlichkeit, Gastfreundschaft. Es herrscht eine enorme menschliche Nähe, die heute gilt, aber schon morgen kann sie vergessen sein.

Wie das?
In der Slowakei in Velka Ida habe ich mit Zigeunern gefeiert. Es war ein wunderbarer Tag. Drei Monate später kam ich zurück, um ihnen die Bilder zu schenken. Ich dachte, sie würden mich freundlich aufnehmen, aber es war eine feindselige Stimmung. Die Erklärung: Es war Montag, und alle zwei Wochen, immer montags, wird die Sozialhilfe ausgeteilt. Die Hälfte der Zigeuner war betrunken.

Wie ist das, wenn Zigeuner feiern?
Bei keinem anderen Volk sah ich je eine so starke emotionale Kraft. Freude und Leid, Schmerz und Glück liegen bei ihnen unglaublich dicht beieinander, und diese Emotionen werden exzessiv ausgelebt. Es ist eine Welt voller Leidenschaft. Da ist coole Nüchternheit nicht angesagt. Es wird unendlich getrunken. Es geht am frühen Morgen los, es geht ohne Pause, es kann zwei, drei Tage dauern. Logisch. Denn wenn man ein Leben voller Entbehrungen und Tristesse lebt, kann ein Fest rauschhafte Züge annehmen. Es geht weiter und weiter, bis der Zustand der völligen Sättigung erreicht ist. Dann ist die Ernüchterung da, der Kopfschmerz. Dann müssen oft auch die Schulden abbezahlt werden. Ich habe Hochzeiten in Makedonien fotografiert, wo Familien noch jahrelang die Kosten für die Feste abstottern. Und beim nächsten Fest wird es genauso sein.

Ein Leben wie im Rausch?
Nur was die Zeiten des Feierns angeht. Was habe ich für Feste erlebt, zum Beispiel Schlachtfeste: Zigeuner sind stolz auf ihre Kinder, auf die Schönheit der Töchter­ und auf die fette Sau im Stall. In Ungarn etwa wird jedes Frühjahr für wenig Geld ein Ferkel gekauft und gemästet. Vor Weihnachten wird es geschlachtet und dann wird gegessen, gegessen, gefeiert ohne Ende.

Und Sie mitten drin?
Klar, immer. Wer bloß zugucken will ist schon draußen. Wirklich lecker schmeckt übrigens der gekochte Schweinebauch, das Kesselfleisch. Man isst es zu Beginn eines Festes. Das ist zwar tierisch fettig, aber  man verträgt dann den Alkohol besser.  Aber schon im nächsten Moment kann die Stimmung wieder kippen, kann umschlagen ins totale Gegenteil. Das geht schnell.

Wie war denn das mit den Zigeuner-Frauen?
Nichts, rein gar nichts war da. Viele Mädchen und junge Frauen sind extrem hübsch, aber sie sind völlig tabu. Sicher gibt es Gesten der Anmache. Aber die sind immer bloßes Spiel. Keine Frau käme auf die Idee, sich mit einem Fremden Gadsche wie mir einzulassen. Das wäre völlig unmöglich. Da sind die Bande der Familien und Clans sehr eng geknüpft. Im Alter strahlen die Frauen dann sehr viel Ruhe, Gelassenheit und Wohlwollen aus. Und sie erzählen gern. Oft sind es unglaubliche Geschichten die einer eher magischen Weltsicht entspringen.

Einer magischen Weltsicht?
Ja, da vermischen sich oft Traum und Wirklichkeit. In Bulgarien habe ich gesehen, wie eine Hochzeit gefeiert wurde, zumindest war ich mir sicher, dass es eine Hochzeit war: Ich sah eine wunderhübsche Braut im weißen Brautkleid, sie trug einen Schleier, einen Brautkranz, und eine Musikkapelle spielte. Es gab Schnaps und Bier und alle tanzten. Meine Dolmetscherin sagte: Nein, das ist keine Hochzeit.

Und was war es?
Die schöne Frau ­ Altenka hieß sie, “die Goldene“ ­ übte nur für ihre Heirat. Es war olgendes passiert: Ihr Vater hatte geträumt, er müsse für die Tochter unbedingt eine Feier ausrichten, ihr ein Hochzeitskleid kaufen, Musikanten bestellen, feiern. Nur so sei gesichert, dass sie irgendwann einmal einen guten Ehemann finden würde. Sonst, so träumte dem Vater, würde es eine Katastrophe geben, das heißt, er würde seine Tochter nicht verheiratet kriegen. Eine schlimme Sache also.  So hat er tatsächlich ein Fest ausgerichtet, ein Fest fürs ganze Dorf.

Wie muss man sich das erklären?
Es liegt am starken Glauben an das Schicksalhafte. Ich habe viele Zigeuner kennengelernt, die an übersinnliche Kräfte und Mächte glauben.  Sicher kommt daher auch die Tradition, dass manche Zigeuner-Frauen mit der Wahrsagerei ihr Geld verdienen.

Auch Ihnen hat man die Zukunft vorher gesagt?
Ja, oft.  Und nichts, gar nichts ist wirklich eingetreten. 20 Kinder von 20 Frauen würde ich haben. Gott sei Dank habe ich nur drei Kinder und auch nur eine Frau. Eine Romni vom Stamm der Kalderasch prophezeite mir in Polen ich würde einen deutschen Millionär treffen, der seines Reichtums überdrüssig sei. Alles Geld würde er mir geben. Eine klasse Prophezeiung. Doch solche Geldgeber existieren wohl nur in den Phantasien von Handleserinnen, die einem einfach nur  was Nettes sagen wollen.

Stellen sich Zigeuner an den Rand der Gesellschaft? Oder sind sie wirklich Verlierer?
Sie haben im Osten Europas keine Chance, ihre traditionellen Berufe auszuüben. In Bulgarien beispielsweise haben viele Roma früher als Kesselschmiede gearbeitet und ihr Geld mit Metallarbeiten verdient. Dann kam das Ende des Sozialismus, die Märkte waren plötzlich offen, und der ehemalige Ostblock wurde überschwämmt mit billiger Ware aus asiatischen Ländern. So wurde den Zigeunern die Lebensgrundlage entzogen. In Rumänien sind viele völlig verelendet. In Moldawien leben Menschen in Erdlöchern, die sie sich gegraben haben. An der Grenze von Ungarn nach Rumänien liegt die Stadt Oradea. Dort die beginnt die Dritte Welt, vier Autostunden hinter Wien. Dort leben 200 Zigeuner auf einer Müllkippe. Sie schlafen in Ölfässern, essen Müll, trinken die Reste aus weggeworfenen Getränke-Dosen. Das hat mit Zigeuner-Romantik nichts zu tun. Das ist das nackte Elend.

Haben Sie in zehn Jahren gelernt, die Welt und die Gedanken der Zigeuner zu verstehen?
Ich werde sie nie richtig verstehen. Diese Welt bleibt mir letztlich unverständlich. Man kann hinein schnuppern, aber wirklich verstehen kann ich sie nicht. Zwar haben Zigeuner starke soziale Bindungen, aber es gibt auch das Problem der Verwahrlosung: In Rumänien sind mir einmal von einem Zigeuner zwei Babys für je 3.000 Mark zum Kauf angeboten worden. Der Mann war arm und kinderreich. Ob man nun elf Kinder hat oder zwölf, das spielt keine Rolle. Nein, diese Welt bleibt mir letztlich fremd.

Haben Sie Freunde unter den Zigeunern gewonnen?
Oh ja, in Makedonien etwa oder in der ungarischen Stadt Heves. Die Zigeuner dort haben alle keine Jobs, also haben sie alte Auto-Batterien gesammelt und in ihren Gärten das Blei herausgekocht. 200 Kinder sind an Bleivergiftung erkrankt, Erwachsenen fielen die Zähne aus, ein zwei Jahre altes Mädchen starb. Die Eltern des Mädchens mussten die Beerdigung bezahlen, den Sarg, das Kreuz. Sie hatten aber kein Geld. Da haben sie einfach die Hälfte ihres Hauses abgerissen und die Ziegel verkauft. Immer wenn ich in diesem Ort bin, halte ich an. Ich werde dort wie ein Freund empfangen und ich fühle mich dort wie ein Freund. Trotzdem, ich werde wohl immer ein Gadscho bleiben.