Interview: Kölner Südstadt

Reiseberichte aus dem Leben der Zigeuner

Ein Gespräch mit dem Fotografenkollegen Dirk Gebhardt 
anläßlich der Fotoausstellung „Gypsy-Passion“ in der Kölner Lutherkirche im Mai 2014

Auf den Kirchenbänken aus hellem Holz stehen Schwarz-Weiß-Fotografien, unregelmäßig verteilt, in Aluminiumrahmen. Auffällig ist das Bild eines jungen Mädchens, vielleicht 12 Jahre alt, das mit ernstem, aber freundlichen Blick in Richtung Altar schaut. Einige Bilder hängen bereits an den Backsteinwänden des Kirchenschiffs. Drei Männer hängen weitere Bilder auf, beobachtet von Jan Krauthäuser, dem Initiator der Zigeunernächte in der Lutherkirche und Rolf Bauerdick, Text- und Bildjournalist. Rolf Bauerdick ist der Autor des Buches „Zigeuner – Begegnungen mit einem ungeliebten Volk“. Er hat die Bilder auf seinen mehr als 100 Reisen zu den Zigeunern in Europa aufgenommen. 

Rolf Bauerdick, warum so viele Reisen – und in welchem Zeitraum haben die stattgefunden?
Praktisch seit dem Mauerfall, als man sich im Osten Europas frei bewegen konnte. Die ersten Zigeuner lernte ich in Rumänien kennen. Dann fuhr ich nach Ungarn, Bulgarien, und in die Ukraine. Mit diesen Reisen wuchs mein Interesse und ich habe meine Recherchen auf die Staaten Ex-Jugoslawiens, auf Spanien, Frankreich und auch die Sinti in Deutschland ausgeweitet. In einem Zeitraum von 23 Jahren hat sich meine Passion für die Zigeuner immer weiterentwickelt.

Ihr Buch liest sich zeitweise wie eine Streitschrift für einen differenzierteren Umgang mit den Zigeunern. Was hat sie dazu bewegt, diese Form zu wählen?
Im Besonderen stört mich die elitär-akademische Antiziganismusforschung (Antiziganismus ist ein Fachbegriff analog zum Antisemitismus. Die Forschung beschäftigt sich mit der „Zigeunerfeindlichkeit“ in der westlichen Welt). Ein Beispiel. In Ungarn gibt es einen kleinen Ort namens Kálló,  in den ich häufiger fahre. Eines Tages wollte ein deutscher Antiziganismusforscher diesen Ort besuchen. Seinen Namen möchte ich hier nicht nennen, um ihn nicht zu diffamieren. Der Mann bekam Schweißausbrüche, als er eine Cigany-Siedlung betreten sollte und weigerte sich. Er hatte Angst. Trotzdem geben seine Texte vor, er habe das Leben der Sinti und Roma verstanden. Menschen wie dieser Forscher dominieren den akademischen Diskurs und den gesellschaftlichen Dialog. Das verstellt die Sicht auf die Realitäten der Menschen vor Ort. Ich habe versucht meine Erfahrungen – die Guten wie auch die Schlechten – dagegenzusetzen.

In ihrem Buch beschreiben sie die Geschichte des rumänischen Weilers Wolkendorf. Durch den Siebenbürger Sachsen Hans Schnell, der eine landwirtschaftliche Genossenschaft unter aktiver Einbindung der Zigeuner gründet, erfährt der kleine Ort einen unerwarteten Aufschwung. Nach seinem Weggang verfällt diese Genossenschaft in einem sehr kurzen Zeitraum. Ist das ein typisches Verhaltensmuster?
Hans Schnell ist ja nicht gescheitert an den Roma. Er ist gescheitert an der Situation Rumäniens. Seine Frau wurde schwerkrank, und er war vor Ort nicht mehr präsent. Die Verwahrlosung in dem Dorf war zu weit fortgeschritten. Dort eine Genossenschaft aufzubauen und an die Eigenverantwortung der Leute zu appellieren war in den neunziger Jahren der falsche Ansatz. Er ist zu früh gekommen mit seiner Idee. Das  ganze genossenschaftliche Eigentum wurde schließlich geklaut. Dabei haben sich am Ende die Rumänen als die weitaus dreisteren Diebe erwiesen als die Roma. Das war die Situation in Rumänien nach der Ceausescu-Diktatur.  Das Land lag nicht nur wirtschaftlich danieder. Die Diktatur hatte die Leute richtig ergrauen lassen und ausgelaugt. Dass die Roma, die auch in diesem Alptraumsozialismus ganz unten waren, dort am wenigsten die Möglichkeiten hatten herauszukommen, ist ein Faktum, von dem ich in meinem Buch erzähle. In einer Gesellschaft, in der jeder für sich selbst um das nackte Überleben kämpft, sind die Roma das letzte Glied in der Kette.

Haben sie bei ihren Reisen durch zwölf Länder Unterschiede im Selbstverständnis und Selbstbewusstsein der verschiedenen Stämme feststellen können?
Ja natürlich! Zum Beispiel die spanischen Gitanos, sie nennen sich selber Kalé und kämen nie auf die Idee, sich als Roma zu bezeichnen. Das ist natürlich ein Stamm der Zigeuner, aber sie nennen sich nicht Roma. Auch die deutschen Sinto bezeichnen sich nicht als Roma. Der Oberbegriff Roma ist falsch.

Kann man an den Fehleinschätzungen über Stammesstruktur und Gewohnheiten der Zigeuner etwas ändern, oder wird hier nur das Eigenklischee der westlichen Welt bestätigt?
Nein, nein. Es gibt ja Roma, die völlig assimiliert sind. Die sich von der Mehrheitsgesellschaft nicht unterscheiden. Ich spreche bewusst in meinem Buch von Zigeunern,  die gewisse Traditionen pflegen und sich nicht vollends an die westliche Kultur angepasst haben. Bei diesen Menschen spielt es keine Rolle mehr, ob die ursprünglich aus dem Balkan, Rumänien oder Bulgarien stammen.

Anscheinend ist es ja für viele Zigeuner auf dem Balkan ein Traum, im westlichen Europa zu leben, um ein wirtschaftliches Auskommen zu finden, zumindest deuteten die Asylgesuche aus Mazedonien darauf hin. Die mehrheitlich von Sinti und Roma bewohnte Kleinstadt Shutka bei Skopje ist ein Beispiel dafür.
Ich bin mir nicht sicher, ob das der Traum ist. Ich glaube, der Traum ist, in ihrer Heimat bleiben zu können, aber dort eben Arbeit und ein geregeltes Auskommen zu haben. Es ist ein Irrtum zu glauben, Roma vom Balkan würden in einem Abbruchhaus in der Dortmunder Nordstadt das gelobte Land sehen. Der Traum ist eher, wirklich irgendwo anzukommen. Hierbei spielt das Problem der Gettoisierung eine große Rolle. Lunic-IX in Košice in der Slowakei, Stolipinovo im bulgarischen Plovdiv oder die Ghettos in Bukarest: Dort werden tausende, zehntausende Zigeuner auf einen Ort gedrängt. Das schafft ein Milieu, aus dem es sehr schwer ist, wieder herauszukommen. Am Anfang war bestimmt die Ausgrenzung der Mehrheitsgesellschaft ein zentrales Problem. Diese Ausgrenzung hat jedoch, über Generationen hinweg, Verhaltensweisen hervorgebracht, welche die Ausgrenzung eher fördern, als sie abzubauen.

 In 23 Jahren konnten sie bestimmt Veränderungen und Entwicklungen der Lebenssituationen der Zigeuner feststellen. Welche Gefühle wecken diese Beobachtungen bei ihnen?
Teilweise sehr frustrierend. Nicht dass es in den Roma-Siedlungen keine Entwicklung gibt, aber der wirtschaftliche Unterschied zum Rest der Bevölkerung ist viel größer als noch vor 20 Jahren. Man findet Siedlungen in Rumänien, die sehen heute schlimmer aus als nach Ceausescus Sturz. Es gibt andere, da hat sich die Situation erheblich verbessert – nur die Kluft zwischen der ethnisch rumänischen Bevölkerung ist erheblich größer geworden. Es gibt keine Jobs für die Leute. Arbeit jedoch ist für mich das A und O einer erfolgreichen Integrationspolitik. Eine Familie, die Arbeit hat, entwickelt leichter das Interesse, die Kinder zur Schule zu schicken. Leider haben zu viele Roma Süd-Ost Europa zu oft die Erfahrung gemacht, dass ein Schulabschluss, keinen beruflichen und wirtschaftlichen Erfolg garantiert. Wer man eh vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen ist, ist es egal ob man fünf oder zwölf Klassen in der Schule unterrichtet wurde. Eine Familie, bei der es keinen Grund gibt, vor zehn Uhr morgens aufzustehen, empfindet der Vater es häufig als bedrohlich, wenn sein zwölfjähriger Sohn mehr weiß als er. 

Zum Schluss hätten wir gerne eine Einschätzung von Ihnen. Wohin geht die Reise für Europas größte Minderheit die Zigeuner? Wie können sie besser in das näher kommende Europa integriert werden?
Das ist eine schwierige Frage. Außer Jobs und Bildung, die traditionellen Antworten, würde ich sagen: Wir müssen die Kräfte und Personen fördern, die  sich integrieren wollen und können. Das ist ganz zentral. Es hilft nichts, die Probleme Rumäniens in das Ruhrgebiet zu verlagern, dadurch dass man neue Ghettos schafft. Zur Integration gehört immer das Wohlwollen der Mehrheitsbevölkerung. Dieses setzt aber von der anderen Seite auch Verhaltensweisen voraus, die erkennen lassen, dass der Wille zur Integration auch vorhanden ist.

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