Krusha:
im Schatten
der Erinnerung
Walon Batusha sieht, wenn er die Augen schließt. Dann kommen die Bilder. Und mit den Bildern sprudeln auch die Worte aus ihm heraus, nachts, in seinem Bett. Am helllichten Tag jedoch bringt der Zwölfjährige kaum eine Silbe über die Lippen. Dann steht er nur schweigend herum und schaut seinen Verwandten beim Aufbau des Dorfes zu, wie sie Mauern hochziehen, Wände verputzen und Nägel in Dachbalken hämmern. „Wenn wir nachts schlafen gehen“, sagt sein Onkel Fitim, „redet Walon wirres Zeug. Irgendwas in seinem Kopf stimmt nicht mehr.“ Und wenn die Letzten der Familie Batusha abends einmal vergessen ihre Haustür abzuschließen, dann kriecht der Junge unter seiner Decke hervor, schlafwandelt nach Draußen und irrt durch die Dunkelheit.
„Ktu jane“ murmelt er dann vor sich hin, immer wieder „ktu jane, ktu jane“ – „Da sind sie.“
Aber da ist niemand. Die Männer in den blauen Uniformen mit den Sehschlitzen und Mundlöchern in ihren schwarzen Masken sind verschwunden. Vor mehr als einem Jahr. Abgehauen nach Serbien, vielleicht aber auch in die Schweiz oder nach Deutschland, mit neuem Pass und neuem Namen. „Du brauchst dich vor ihnen nicht mehr fürchten, Walon“, sagt Fitim immer wieder. Er meint es gut mit seinem Neffen. Drei Jahre lebte er im westfälischen Münster, vor ein paar Monaten kehrte er freiwillig ins Kosovo zurück, „weil meine Familie mich braucht“. Aber seine Worte sind zu schwach. Sie bringen Walon nicht den Vater zurück. Und auch nicht den Großvater und die anderen zwanzig männlichen Familienangehörigen der Batushas aus dem Dorf Krusha e Vogel. Fitims Worte kommen nicht an gegen die Stimmen des Todes im Kopf eines Kindes.
„Ktu jane.“ Sie sind immer noch da. Sie werfen ihre Schatten auf Suzana Shehu, wenn sie die staubige Dorfstraße von Krusha auf und ab geht. Und sie geht oft auf und ab. Morgens, mittags und abends. Wenn man sie freundlich fragt, wo sie hin will, dann zuckt die 20-jährige zusammen und aus ihren Augen springt die nackte Angst. „Haut ab und bringt euch selber um“, haben die Maskierten zu den Frauen aus Krusha gesagt. Dann führten sie alle männlichen Bewohner, die über vierzehn Jahre waren, in einen Stall. Die zwei Brüder Suzanas waren darunter, ihr Vater und sechsunddreißig weitere Männer der Großfamilie Shehu.
Manchmal spricht Suzana ein paar Worte. Mit den Kindern. Vormittags, wenn die Grundschüler Pause haben, steht die junge Frau zwischen den Halbwaisen auf dem neuen Spielplatz. Dann lächelt sie still zwischen roter Rutsche und bunten Kletterstangen, die die „Norwegian Church Aid“ neben der albanischen Schule aufgestellt haben. Doch wenn die verwitwete Lehrerin Gylferie Shehu die Schulglocke zum Unterricht schrillen lässt, zieht sich Suzana zurück und vergräbt sich in die Welt der Bücher. Denn die Malteser haben dem Dorf eine kleine Bücherei gestiftet. „Es ist gut, dass wir jetzt Romane haben“, sagt Agron Limani, der zweite Bürgermeister, „vielleicht kommen die Menschen dadurch auf andere Gedanken.“
Aber das tun sie nicht. Und Agron Limani weiß das.
Er selber liest nicht mehr. Und er besitzt auch kein Buch mehr. Solschenizyns „Archipel Gulag“, Dostojewskis „Idiot“ und Tolstois „Krieg und Frieden“ verbrannten mit Ehebett, Kühlschrank und Bücherregalen, als die Serben die 137 Häuser der Albaner aus Krusha in Schutt und Asche legten. Das war am 26. März 1999. Der Tag, an dem die Mörderbanden auch seinen Vater Nebi und seinen Bruder Luan massakrierten. An diesem Tag steckte Agron Limani in den Bergen unweit der Stadt Prizren. Der studierte Elektroingenieur und Informatiklehrer diente als „Officer of Information Systems“ bei der UCK Brigade 124. Heute ist der 33-jährige Zivilist. Das jedenfalls steht auf dem Ausweis der kosovarischen Befreiungsarmee, den Limani in seinem Portemonnaie trägt. Und er unterrichtet auch wieder das Fach Informatik. Und manchmal nimmt er auch seinen 15-monatigen Sohn Ermal auf den Schoß. Aber nie sehr lange. „Ich hatte mit meinem Freund Ibrahim in den Bergen den Auftrag, die Toten zu begraben, die wir in den zerstörten Dörfern fanden. Da waren Säuglinge bei. Sie waren halb verbrannt.“
Agron reibt sich die Augen, damit keine Tränen kommen.
Dann holt er das einzige Buch hervor, das für ihn noch von Wert ist. Es ist eine Kalenderkladde. Vollgeschrieben mit statistischen Aufzeichnungen über sein Dorf. Da stehen die Namen der 128 albanischen Kinder, die ohne Vater aufwachsen müssen. Und die Namen der achtzig Witwen aus Krusha. Und auch die Namen der 103 Männer, die von den Todesschwadronen in den Viehstall der Bauernfamilie Batusha geschickt wurden. Der Älteste, Bali Avdyli, zählte 74 Jahre. Sefer Shehu war der jüngste. Er war gerade einmal dreizehn.
Dann entschuldigt sich Limani. Als habe er seinen ermordeten Nachbarn mit der Auflistung ihrer Namen ein letztes Unrecht angetan. Denn die Monatsnamen auf den Blättern für seine Aufzeichnungen sind in serbischer Sprache gedruckt. Sogar das Papier hat in Krusha seine Unschuld verloren. Seit Freitag, dem 26. März 1999 gegen 14.00 Uhr.
Zwei Tage zuvor hatte die Nato ihre ersten Luftangriffe auf Serbien gestartet, als sich Milosevics Milizen noch immer auf dem Vormarsch in Richtung der südkosovarischen Stadt Prizren befanden. Sie kamen von Norden entlang der Hauptstrasse, die von Gjakova kommend an Krusha vorbeiführt. Soldaten mit Panzern, Zivilpolizisten und Paramilitärs in blaugescheckten Uniformen und mit Maschinengewehren setzten sich an der Eisenbahnlinie fest, über die einst tausende Waggons mit rotem Wein der Marke „Amselfelder“ aus dem Weinfabrikation von Krusha nach Deutschland rollten. Es war der Morgen des 25. März. Da fühlten sich die Menschen aus Krusha noch sicher.
„Wir haben doch an die Vereinbarung geglaubt“, erzählen Lufti Ramadani und Agim Asllani, zwei von sechs Augenzeugen, die das Massaker im Stall von Batusha überlebt haben. Von dieser Vereinbarung berichten auch die Frauen. Demnach gab es eine mündliche Übereinkunft, der zufolge die UCK die rund 150 serbischen Bewohner des Dorfes in Ruhe lässt und die Albaner keine Soldaten zu fürchten haben. „Wir hatten nichts gemacht, für dass sich die Serben in Krusha hätten rächen können“, so Asllani. „Sonst hätten wir uns doch in den Bergen versteckt. Es war doch genügend Zeit zu verschwinden.“ Stattdessen versammelten sich über vierhundert Männer, Frauen und Kinder am oberen Ortsende unterhalb der Weinberge im Hof der Familie Batusha. Eine Nacht harrten sie dort im Freien aus, in der Hoffnung, die Soldaten würden weiter ziehen. Aber das taten sie nicht.
An der Eisenbahnlinie fingen die Mordbrenner an und fackelten die ersten albanischen Häuser ab. Mit jedem Brandsatz, den sie warfen, kamen sie dem Anwesen der Batushas näher. Dann drangen Scharfschützen in die Nachbarhäuser ein. Sie postierten sich auf den Dachstühlen, schlugen ein paar Ziegel heraus und richteten ihre Gewehre auf die verängstigten Menschen. Der Bauer Isen Ramadani jedoch rannte einfach los auf sein Feld um sein Vieh in Sicherheit zu bringen. Der 72-jährige starb als erster. „Als er blutend da lag“, so Agim Asllani, „brach eine Panik aus. Die Frauen schrien wie verrückt und die Kinder weinten. Die Uniformierten drohten jeden zu erschießen, der sich bewegt.“
Anschließend wurden die Frauen und Kinder von den Männern getrennt. Die Polizisten hätten höhnisch gelacht, erzählen die Frauen der Familie Shehu. „Wir sollten abhauen und uns mit unseren Kindern in den Fluss Drina stürzen.“ Zurück blieben 112 Jungen und Männer. Lufti Ramadanis Söhne, der geistig behinderte Avrim, 26, und der Schüler Bayram, 15, waren dabei, ebenso wie die Rollstuhlfahrer Said und Avdyl. Die beiden Männer waren gelähmt. „Wir mussten unsere Taschen leer räumen“, so Asllani. Er musste zusehen wie sein betagter Vater Adem gezwungen wurde zuerst alles Geld einzusammeln. Danach alle Autoschlüssel, zuletzt alle Pässe und Dokumente.
Fünfzehn Monate später hockt sich Agim Asllani im Schneidersitz auf den Boden, verschränkt die Hände hinter dem Kopf und starrt zu Boden. „So mussten wir viele Stunden sitzen“, erklärt der 57-jährige. Minutenlang verharrt er in dieser Stellung, bis er langsam weiter reden kann. Serbische Polizisten sollen es gewesen sein, nicht mehr als sechs, die die Albaner in Dreierreihen in den Stall von Batusha trieben. Lufti Ramadani und Agim Asllani hatten den Eindruck: „Die warteten auf irgendeinen Befehl.“
Dann kam der Blonde. „Obwohl wir immer nur zur Erde blicken mussten, habe ich ihn für einen Augenblick gesehen.“ Aber mit der Beschreibung, die Ramadani liefert, ist nicht viel anzufangen. Der unmaskierte Blonde soll eher klein und dicklich gewesen sein, eine blaue Polizeiuniform mit Rangabzeichen getragen haben und so um die Fünfunddreißig sein. „Warum kommst du so spät?“, hätten ihn die anderen Polizisten gefragt. „Keine Sorge, sie haben noch zwei Minuten.“ Das ist der letzte Satz des Blonden, den Ramadani verstehen konnte.
Heute wachsen neben der Hinrichtungsstätte von Batusha grüne Maisstauden. Irgendjemand hat ein paar Obstbäume gepflanzt. Wo Agron Limani noch zwei Schuhe, kleine Knochensplitter und Metallteile findet, die einmal zu einem Rollstuhl gehörten, schob die Killerbande am 26. März letzten Jahres die verbrannten Gebeine der Erschossenen mit einem Bulldozer zusammen. Bauschutt, geborstene Dachziegel und menschliche Überreste wurden auf Lastwagen geladen und in die Drina gekippt.
Mehmet Krasniqi, Agim Asllani und Lufti Ramadani sowie drei weitere Männer konnten aus der Hölle von Batusha fliehen. Sie waren die ersten aus den Dreierreihen, die in den Stall mussten. Als die Mörder ihre Maschinengewehrsalven losfeuerten, schützten sie die sterbenden Leiber ihrer Verwandten, ihrer Freunde und Nachbarn. „Ich habe mich sofort auf den Boden geworfen“, sagt Agim Asllani. „Zuerst glaubte ich, die schießen gar nicht wirklich. Die knallen nur in die Luft, um uns zu erschrecken.“ Doch dann brach das „fürchterliche Gestöhne“ der Verwundeten aus. Er lag unter den Toten und wagte kaum zu atmen. Danach, so bekunden die Überlebenden einhellig, hörte man zwischen den Wehklagen der Sterbenden serbische Stimmen und einzelne Revolverschüsse.
„Dann war es still“, sagt Ramadani. „Bis es fürchterlich heiß wurde.“ Seine rechte Hand ist infolge schwerer Verbrennungen heute völlig vernarbt. Als die Serben Brandbeschleuniger in den Stall warfen, lebten noch neun Männer. Sie alle sprangen aus dem Inferno hinaus ins Freie. „Lieber erschossen werden als bei lebendigem Leib verbrennen“, schoss es dem 33-jährigen Landwirt Mehmet Krasniqi durch den Kopf. Er wählte den richtigen Fluchtweg. Drei der Fliehenden jedoch erwischten den falschen. Sie fielen im Kugelhagel der Wachposten. Unter ihnen war auch der junge Adnan Shehu, der Bruder von Suzana, die immer die Dorfstrasse auf und ab geht. „Wo sollen wir trauern“, fragen die Frauen. Für sie hat die reißende Drina nicht nur die Gebeine ihrer Angehörigen hinweg getragen. Auch die Seelen der Ermordeten finden ohne Grab keine Ruhe. Und die der Übriggebliebenen erst recht nicht. Wo einst der Stall der Batushas stand, klaffen jetzt zwei große Löcher. Eines ist voll Wasser gelaufen.
„Frieden für dieses Haus und allen die da gehen ein und aus“, steht auf einem Schild in albanischer, englischer und deutscher Übersetzung. Es hängt über dem Eingang der Familie Prenkaj, die nur noch aus Frauen und Kindern besteht. Die Diakonie Württemberg und Baden hat die Tafel angebracht. Auch die norwegische „Action by churches together“ hat viel Geld für der Wiederaufbau Dutzender von Häusern gestiftet. „Humedica Germany“ hat einen schönen weißgetünchten Kindergarten gebaut. Die Malteser haben die dörfliche Schreinerei eingerichtet. Von den Schwestern der Mutter Theresa stammen die Lagervorräte an Weizenmehl und „USA“-Speiseöl. Und zweimal in der Woche spielen Mitarbeiter von „Global Care“ mit den Halbwaisen, die mit roten Schultaschen zur Schule gehen, auf denen das „Unicef“-Emblem prangt.
Eine rundliche Amerikanerin von der Organisation „Lumiére“ schaut regelmäßig vorbei. Sie redet mit den Frauen. Und sie redet viel. Die albanische Dolmetscherin kommt kaum mit dem Übersetzen nach. Sie fragt nach Namen und nach “sad stories“. Die traurigen Geschichten möchte sie gern aufschreiben, „to move the hearts of our people in the States”. Und dann sagt sie noch, dass diese Geschichten wichtig sind für ein effektives Fundraising. Doch die Frauen nennen keinen Namen. Sie schweigen. Nicht aus Trotz, eher weil die Sprache ihres Schmerzes das Verstummen ist.
„Ktu jane.“ Sie sind noch da. Und sie haben sich eingenistet in den Köpfen, in den Herzen und Seelen. Dort haben sie weiter gemordet. Sie haben die Wünsche getötet. Und den Sinn.
Quamil Shehu hatte sich retten können. Er war einer von den sechs Männern, die lebend aus dem brennenden Stall von Batusha kamen. Auch sind ihm zwei seiner Söhne geblieben. Gjevgjet und Haki lebten während des Krieges im Schwäbischen und sind nun zu ihrer Familie zurückgekehrt. Gemeinsam mit ihrem 64-jährigen Vater schneiden sie Bauholz zu, sägen und werkeln rund um die Uhr. Und wenn sie ihr neues Wohnzimmer mit Kiefernholz vertäfeln, so scheinen sie für einen Moment nicht daran zu denken, dass 39 Mitglieder ihrer Familie nicht mehr da sind. „Nein“, sagen die beiden Brüder, „nach Deutschland wollen wir nicht zurück. Unser Zuhause ist hier.“
Zwei Tage später schreiten sie stumm mit ihrem Vater hinter einem Sarg her. Der Krieg hat sein vierzigstes Opfer unter den Shehus geholt. Mit Hysnije Shehu verlor der überlebende Quamil seine Frau, Gjevgjet und Haki ihre Mutter. Sie wurde 58 Jahre alt. „Hysnije arbeitete noch und ihr Körper war gesund“, sagen die Nachbarn. Sie sind sich sicher: Hysnije Shehu starb an ihrem gebrochenen Herzen. Sie kam nicht hinweg über den Tod ihrer Kinder und legte sich auf ihr Sterbebett. „Ich sehe meine Söhne“, sollen ihre letzten Worte gewesen sein.
Für: Renovabis, 1999