Kolumbien I: Jugendbanden in Bogotá

KOL_Jugendbande

 

 

 

 

„Er war
unschuldig“

Plötzlich ist die Angst da. Sie hat sich hereingeschlichen, klammheimlich und unbemerkt. Und nun sitzt sie mit uns am Tisch, in Alfredos schmierigem Chicken-Imbiß, zwischen fettigen Grillhuhn, eiskaltem Leones-Bier und überquellenden Aschenbechern. Violetta fingert die weißgottwievielte Zigarette aus der Schachtel, nimmt ein paar Züge, reißt Fleischstücke aus dem Hühnchen, nippt am Bier. Sie ist nervös. Ihre Hände finden keine Ruhe. Sie zerfetzen Papierservietten, kratzen Etiketten von den Bierflaschen, tätscheln ihre Freundinnen Isabel und Anna. Die sind genervt von Violettas hektischem Getue und ihrem pausenlosen Gequatsche. „Halt endlich die Klappe“, herrschen sie ihre Bandenchefin an. Die hört gar nicht zu. Unentwegt wandert Violettas Blick zu dem offenen Eingang hinaus auf die Straße, als drohe von dort Gefahr. „Du sitzt falsch“, sagt sie mit einem Male unvermittelt, und ich erfahre die erste Verhaltensregel im kolumbianischen Bandenkrieg: „Setz Dich niemals mit dem Rücken zum Eingang! Behalte immer die Tür im Auge.“

Aber draußen geschieht nichts. Jedenfalls nichts Verdächtiges. Motorradfahrer knattern vorbei, stinkende Omnibusse pusten Dieselruß in die Luft, Frauen schleppen Einkaufstüten nach Hause, und ordentlich gekleidete Kirchgänger mit Schlips ziehen zu einem der frommen Prediger, die Bibel unterm Arm, ihre Ehefrauen und Kinder im Schlepptau. So wie jeden Samstagabend im Barrio „San Sebastian“.

Doch die Gefahr verbirgt sich. Sie liegt in der Luft, schwebend wie eine dunkle Ahnung, nicht sichtbar und nicht greifbar, wie ein atmosphärischer Hauch. Sie kommt mit der Nacht, wenn die flackernden Glühlampen die Straßen in ein trübes Licht tauchen, wenn die Dunkelheit den Menschen ihr Gesicht raubt und sie in huschende Schattenwesen verwandelt. Dann werden die Schritte der Passanten schneller, dann suchen die Familien den Schutz ihrer Häuser und verrammeln die Türen mit dicken Kettenschlössern. Und selbst die hartgesottenen kolumbianischen Taxifahrer chauffieren niemanden mehr in die südlichen Vorstädte nach Bossa, Kennedy oder Bolivar. „Muy, muy peligroso“, sagen sie, extrem gefährliche Gegend.

Violetta spürt die Angst. Und Anna und Leidy, Alexander und „El negro“, der Schwarzgelockte, spüren sie auch. Doch sie albern herum, kippen Bier auf die Plastiktische und werfen mit Hühnerknochen, als ließe sich so die Furcht vertreiben, als könnten sie so die Erinnerung an die letzte Nacht beiseite drängen. Da sprang die Gefahr aus ihrem Versteck. Sie hatte hinter einem Mauervorsprung gelauert, war aus einer Toreinfahrt hervorgeblitzt. Morgens um kurz nach vier, als José auf dem Heimweg war.

José Umberto wurde nur 21 Jahre alt. Vielleicht, weil er eine weitere Bandenregel missachtet hat. „Beweg Dich nachts immer in der Gruppe, niemals allein.“ Doch José war allein gegangen, nachdem sie bis in den frühen Morgen getanzt hatten: Violetta und die Mädchen, Nelson und Alex, Fabio und Carlos, gut die Hälfte der dreißigköpfigen Bande. Aguadiente, billiger Schnaps, war natürlich auch geflossen, und ein paar Joints hatten auch die Runde gemacht. Dann war José aufgebrochen, zum Haus seiner Eltern, wo auch seine schwangere Freundin Perla lebt. Doch José hatte den Weg bis zu seiner Haustür nicht mehr geschafft. „Man fand ihn im Rinnstein“, erzählen die Jugendlichen in Alfredos Hühnergrill. „Mit zwei Kugeln im Kopf.“

„Es könnten welche von der Bande der Olivos gewesen sein“, rätselt Alex, Isabels derzeitiger Freund. „Oder die Pivos“,  schätzt Mauricio, den alle aus Violettas Bande nur „Shell“ rufen, den Benzinschnüffler. Shell ist Josés Schwager. Er steht mit den „Olivos“ aus dem Nachbarbarrio auf Kriegsfuß, „hat noch ein paar Rechnungen offen“, wie er sagt. Aber weshalb sollten die Olivos José einfach killen? Wegen Drogen? Aus Rache? Wegen eines Mädchens? „Er war unschuldig“, meint Violetta und zuckt mit den Schultern. „Ich weiß wirklich nicht, wer ihn erschossen hat.“ Auch die Anderen scheinen nichts zu wissen. Sie wissen nur, José ist nicht der erste aus ihrer „Pandilla“, der ermordet wurde. Und er wird nicht der letzte sein. Acht Jugendliche aus Violettas Bande, sechs Jungen und zwei Mädchen zwischen vierzehn und neunzehn Jahren, wurden erstochen oder abgeknallt. Und das in den letzten vier Monaten.

An die vielen Toten wird sich Padre James niemals gewöhnen. „Aber irgendwann musste ich aufhören sie zu zählen“. James ist Ire, hat vierzig Jahre hinter sich, von denen er die letzten 15 in Kolumbien verbracht hat. „Wunderbare Zeiten“, wie er zurückblickt, „aber auch Jahre voller Leid und Schmerz, voller Gewalt und Tod“. Der Priester lebt in Bogotá, nicht im halbwegs sicheren Norden, wo sich die Reichen hinter meterhohen Mauern in ihren Hochsicherheitsappartements verschanzen, sondern in den tristen Vorstädten im Süden. Die meisten ohne Arbeit, alleingelassen mit ihrer Armut, ihrer Kinderschar, ihren Sorgen. Und ihrer Angst.

„Jugend für das Leben“, heißt die Einrichtung, die James zusammen mit den Sozialarbeitern Pedro und Noemi betreibt, ein Jugendzentrum, mit bescheidenen Räumen und noch bescheideneren Mitteln. Aber mit den richtigen Fragen. „Was kann man gegen die Gewalt der Banden unternehmen? Alle Überlegungen in den kolumbianischen Städten gehen in diese Richtung“, sagt James. „Wir fragen lieber, was können wir für diese jungen Menschen tun?“ Diese Frage quält ihn, darüber zermartert er sich den Kopf, der Pater James, der in seinen derben Flanellhemden nicht recht in das Bild passen will, was man in Kolumbien gemeinhin von einem Mann der Kirche hat.

Vielleicht kommen die Jugendlichen deshalb: Violetta, wenn sie erschöpft ist und ausgebrannt, unendlich müde nach rastlosen Nächten auf den Straßen mit billigem Fusel und vielen Joints und zuviel Ärger. Oder Isabel, 15. Ihr versoffener Vater hat sie rausgeworfen. Und nun ist sie auch noch im vierten Monat schwanger. Von Shell, wie sie glaubt. Auch den 18-jährigen Sergio zieht es ins Jugendzentrum. Seit er einen Messerstich vom Hals bis zum Bauchnabel überlebte, lächelt er nur noch stumm in sich hinein. Auch „El enano“, der Kurze, lässt sich manchmal blicken. Er hat sich mit Kerosin derart um den Verstand geschnüffelt, dass er keinen Satz von Vernunft mehr über die Lippen bringt. Violetta, Fabio und Jairo, Alex, der Mädchenschwarm, und Patricia, die Anhängliche, und die rotzfreche Anna, sie alle kommen in James Haus, unregelmäßig mal frühmorgens, mal nachts um elf oder zwölf. Dann rütteln die Jungen an der Eisentür, reißen den Padre aus dem Schlaf und wollen einfach nur hinein in jene kargen Räume, in denen sie ein wenig Ruhe und Schutz finden. Und dann sitzen sie einfach nur da, klampfen ein paar Akkorde auf verstimmten Gitarren, werfen eine Musikkassette ein und reden und reden. „Die suchen nichts anderes als Freundschaft“, sagt der Padre, „jemanden, der einfach nur für sie da ist.“

„Die Kinder hier werden hineingeboren in ein Klima der Gewalt. Sie saugen es auf mit der Muttermilch.“ James spricht nicht wie jemand, der den Terror von Mord und Totschlag erklärt. Er redet eher wie ein Verzweifelter, einer der helfen will, wie einer, der mit einem Eimer Wasser vor einem großen Flächenbrand steht. Das Sterben der Bande von San Sebastian begann am 3. August. „Es war in der Nacht von Samstag auf Sonntag. Wir tanzten in einer Disco“, erzählt Violetta. „Ziemlich zugedröhnt“, ergänzt Anna. „Deshalb gab es Ärger mit dem Besitzer. Er wollte uns rauswerfen. Da mischten sich welche von den Olivos ein und zogen ihre Messer.“ Am Ende war der Tanzschuppen demoliert, vier Schwerverletzte lagen am Boden. Alles Mitglieder aus Violettas Gang. Doch das Drama ging weiter. „Die Verletzten wurden von fünf Jugendlichen ins Hospital nach Kennedy gebracht“, sagt James. Doch die fünf Begleiter, Sergio, Nelson, Fabian, Jairo und Paula, alle im Alter zwischen 15 und 17, kamen nicht zurück. Im Morgengrauen lagen sie auf einem Seitenstreifen an der Straße, knapp 300 Meter vom Krankenhaus entfernt. Zusammengeprügelt und erschossen.

Nelsons Mutter schreit. Noch Monate nach dem Verlust ihres einzigen Kindes weiß Maria Fernandez nicht, wohin mit ihrem Schmerz. „Raus“, will sie „raus aus Bogotá, raus aus diesem verfluchten Land.“ Doch wohin? Allein. Ohne Verwandte. Ohne Arbeit, ohne Geld. Ihr Ehemann ist verschwunden, ihr Sohn unter der Erde. „Nelson hat doch niemandem etwas getan“, weint sie am Grab. „Keine Drogen, keine Diebstähle. Gar nichts.“ „Alle waren unschuldig“, sagen die Mädchen von Violettas Bande zwischen den Grabreihen des Friedhofs von San Sebastian, wo ihre Chefin einen Strauß Chrysanthemen von einer frischen Grabstätte klaut und die Blumen vor den Gedenksteinen von Nelson und seinen Freunden verteilt – als letzte Geste der Trauer derer, die in der Nacht zum 3. August noch einmal Glück hatten.

Aufgeklärt wurde der mysteriöse Mord an den vier Jungen und an Paula nie. Stattdessen kursieren Gerüchte. Über die Olivos, über den Discobesitzer, über die Geheimpolizei und über Todesschwadronen, die sich in Kolumbien verniedlichend „autodefensas“, Selbstverteidigungstruppen, nennen. Die heuern vorzugsweise Halbwüchsige an. In den Städten Cali, Medellin und Bogotá sind Tausende von entwurzelten Jugendlichen bereit „alles zu tun“, sagt James, „für Essen und ein bisschen Geld, vor allem aber für das Gefühl, von irgendjemandem gebraucht zu werden, und sei es nur für dessen dreckige Geschäfte.“

„Los, hauen wir ab.“ Violetta erklärt den Samstagabend in Alfredos Hühnchen-Grill für beendet. „Heute Abend gehen wir nicht raus. Kein Tanz. Kein Marihuana. Wegen José.“ Niemand widerspricht. Wie immer, wenn Violetta, die unumstrittene Bandenchefin, ihre Entscheidungen verkündet. Wir verlassen die Chicken-Bar. Nichts ist passiert, nur auf den Plastiktischen bleibt ein kleines Schlachtfeld zurück. Alfredo wischt die Abfälle beiseite.

Violetta lebt mit Anna, Isabel und Alex in einer Wellblechbaracke, in einer Straße, die zumindest von ihrem Namen her der Trostlosigkeit trotzt. Bei dem Straßennamen stand der Papst als Schutzpatron Pate, so wie in Hunderten neuerer Barrios und Wohnsiedlungen auch. In der „Calle Juan Pablo Segundo“ fürchtet Violetta niemanden, hier wird sie gefürchtet. „Magst Du es, wenn die Leute Angst vor Dir und Deinen Leuten haben“, fragt James. „Ist mir egal, Padre.“ Reichlich Trotz schwingt mit, wenn Violetta den kühlen Boss mimt.

Violetta nimmt, was sie kriegt, verführt, wen sie will, und befiehlt, wonach ihr der Sinn steht – getrieben von schier unbändigem Lebenshunger. „Wie die Wikinger“, meint sie. Shell war es, der ihr von den „Vicingos“ erzählt hat. Dass sie starke Kerle waren und die Welt erobern wollten. Das fand Violetta klasse und die Mädchen auch, weshalb sie sich von Shell martialische Wikingergesichter auf die Arme tätowieren ließen. Vielleicht aber treibt Violetta weit weniger die Gier der Starken, als die ungestillte Bedürftigkeit der Schwachen. „Im Grunde ist sie ein kleines Mädchen“, sagt James – ein Kind,  das für ein süßes Rosinenbrötchen Freudentänze aufführt und einem um den Hals fällt, wenn man ihm eine Tafel Schokolade mitbringt.

Am liebsten liegt die Chefin in ihrem breiten Bett. Mit Anna, Patricia, Leidy und Isabel, umgeben von vier Blechwänden, bunten Plastikpüppchen, Plüschteddybären und Schmetterlingen aus Glitzerpapier. Dann starren sie rund um die Uhr auf die flimmernde Fernsehkiste, schauen blödsinnige Seifenopern, lachen und gickstern und stopfen Kekse in sich hinein. „Sardinas“, werden die Jugendlichen in Kolumbien gerufen, weil sie zusammenklucken, dichtgedrängt wie die Sardinen in der Büchse. Doch manchmal scheint es, als schweiße neben der Sehnsucht für Gemeinschaft etwas ganz anderes die Banden zusammen. „Sie fürchten alle im Kampf ums Überleben alleine da zu stehen“, meint Pater James.

„Liebe“, lacht Carlos gequält, „die gibt es nicht. Es gibt nur Lust und Sex.“ Und dann schaut er unsicher in die Runde, als warte er nur darauf, dass jemand sagt „Carlos, das ist nicht wahr.“ Aber das sagt niemand, an einem Ort, wo die Liebe Krieg ist und das Liebesspiel Kampf. In San Sebastian in der Calle Juan Pablo Segundo klammern sich Ertrinkende aneinander. Die Haut zerkratzt und Knutschflecke, blauschwarz wie Würgemale, so kommt Violetta nach einer Nacht von ihrem Ex zurück. Und manchmal, wenn die Umklammerungen der halben Kinder zu eng werden, kommen neue Kinder dabei heraus. Violetta gebar ihr erstes Baby mit 15. Nun hat sie vier. Ihre Kinder leben, erwähnt sie eher beiläufig, „bei irgendwelchen Leuten.“

Das kann Donna Elvira nicht gutheißen. Alle paar Wochen schaut die betagte Dame im Jugendtreff des Padre vorbei. Sie hat eine durch und durch katholische Seele, ein mütterliches Herz, das für die Armen schlägt, und viel Geld. Allerdings besitzt Donna Elvira auch eine äußerst strikte Auffassung davon, was für die Bandenkinder gut ist. „Ich baue Violetta ein festes Steinhaus, mit Küche und Bad, dann kann sie ihre Kinder zurückholen.“ Aber Violetta will nicht mit ihren Kindern leben. Und sie kann es auch nicht. „Violetta ist keine Mutter, sie ist ein Mädchen, das viermal schwanger wurde“, erklärt der Padre. Aber das versteht Donna Elvira nicht.

Patty, 25, ist dabei, eine Mutter zu werden. Für ihre drei Kinder, „weil die mich brauchen“. Anfang dieses Jahres hat Patty Violettas Bande verlassen. „Die nächtlichen Streifzüge, die Drogen, die viele Gewalt, ich wollte das alles nicht mehr.“ Ihr eigener Vater wurde wegen einer Eifersuchtsgeschichte erstochen, als sie noch ein Kind war; der Vater ihrer beiden ältesten Töchter Clara und Vanessa wird erst im hohen Alter wieder ein freier Mann sein. Er sitzt wegen Mordes. „Unschuldig“, sagt Patty. Viele Gespräche mit Pater James und Noemi haben Pattys Willen gestärkt, sich mit kleinen Gelegenheitsjobs ein wenig Geld zu verdienen und wieder mehr für ihre Kinder zu sorgen. Zugleich hat die Angst ihren Entschluss beflügelt, aus dem ewigen Teufelskreis aus Gewalt, Rache und Tod auszusteigen. Die Angst vor den „Rayas“, die Agenten der staatlichen Geheimpolizei.

„An einem Abend im letzten Oktober kamen zwei Männer und eine Frau in unser Viertel“, erzählt Patty. „Sie sprachen mich freundlich an und fragten nach irgendeiner Familie. Dann zeigten sie mir ein Papier mit einer Liste. Etwa 25 Namen standen darauf. Violettas, Annas und Isabels, auch mein eigener und die Namen der Jungen, fast alle aus unserer Clique. Die wollten wissen, ob ich diese Namen kenne. Nein, habe ich geantwortet. Wir wissen, dass Du lügst, sagte einer der Männer. Seitdem haben wir alle schreckliche Angst.“

Violetta weiß, dass sie bei den „Rayas“ auf der Liste steht. Und Isabel, Leidy, Anna und die Jungen wissen es auch. Nur meistens denken sie nicht daran, meistens schieben sie die Furcht beiseite. Mit den „Tombos“, den uniformierten Polizisten in ihrem Quartier, meint Violetta, „kann man klarkommen. Die wollen nur ihre Ruhe haben.“ Und gegen die Banden in den benachbarten Barrios hilft die Vorsicht. „Die haben selber Angst.“ Nicht aber die „Rayas“, die Beamten der Sekurität. Die kurven nachts in schwarzen Autos ohne Nummernschild und mit getönten Scheiben in der Gegend umher und schlendern in Jeans und Lederjacken scheinbar ziellos durch die Straßen. „Die schießen sofort“, wissen die Jugendlichen.

„Jugend für das Leben“, sagt die Sozialarbeiterin Gloria, „ist ein Projekt der ganz, ganz kleinen Schritte.“ Doch einige sind bereit, die ersten Schritte zu gehen. Carlos, Raoul und Jorge hängen nicht mehr bekifft in den Gassen herum. Seit Monaten treffen sie sich jeden Tag. Und arbeiten. Im Werkraum des Jugendzentrums stapelt sich Wandschmuck aus Gips: Madonnen- und Jesusköpfe, bunt bemalt. „Die werden wir am Pilgerberg Monteserrat verkaufen“, erklärt Carlos und freut sich auf „das erste selbstverdiente Geld“. „Selbstvertrauen“ sagt James, „ist das Wichtigste. Das ist unser Problem. In einem Land, wo jeder jedem misstraut, da glaubt auch niemand an sich selbst.“

Es hämmert an der Eisentür. Gloria schließt auf. Es ist Sonntagmorgen, gegen 11 Uhr, und fast alle sind gekommen. Mit einstündiger Verspätung zwar, aber immerhin. „Wir wollen mit dir reden, Padre“, sagt Violetta verlegen. „Ist gut“, James antwortet knapp. Er gibt sich kühl und distanziert. Der Pater ist sauer. Seit der letzten Nacht fehlt der Kassettenrekorder, den er eigens für die Jugendlichen gekauft hat.

Alle setzen sich. James spricht mit klarer, deutlicher Stimme. Er spricht von Vertrauen, von Ehrlichkeit, von gegenseitigem Respekt. Und dann nennt er seine Regel Nr. 1: „Ich habe nichts zu verschenken und ich will auch nichts verschenken. Das Einzige, was ich habe, ist meine Freundschaft. Missbraucht sie nicht.“ Etwas Seltsames geschieht in diesem Moment. Keiner schreit los, so wie sonst, keiner versucht den Diebstahl auf einen Anderen zu schieben. Still sind sie geworden, Anna und Isabel, Alex und El Negro, so als spürten sie, das ist kein Feind, der da zu ihnen spricht. Und Violetta nickt und sagt: „Ist okay, Padre.“
Aus  „Brigitte“, 1999