Mongolei: Obdachlos in Ulan Bator

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Abstieg
in die Unterwelt

Das Schönste, was Mumhtsereg, die „Ewige Blume“, ihrem Kind mit auf den Lebensweg gab, war der poetische Name. Sie nannte ihre Tochter Solongo, „Regenbogen“, der einzig fürsorgliche Akt, zu dem die junge Mutter fähig war, bevor sie ihr Neugeborenes in eine Pappkiste legte und in den Schmutz der Straße stellte. Bei klirrendem Frost harrte Mumhtsereg aus, wartete auf mitleidige Passanten, die ein paar Tugrik-Scheine in den Karton warfen. Wenn das Geld für einen Liter Wodka langte, verkroch sich die 16-Jährige unter der Erde, legte sich in einen warmen Kanalschacht und trank sich besinnungslos. Mitunter kaufte sie ihrem hungernden Säugling trockene Kekse und süße Kolalimonade, ansonsten ließ sie ihn schreien. Bis Mumhtsereg mit einer Bettlerin in einen Streit geriet, von dem heute niemand mehr weiß, ob er sich um Geld, Alkohol, Männer oder alles zugleich drehte. In blindem Zorn griff ihre Widersacherin zu einem Teekessel um sie mit siedendem Wasser zu übergießen. Mumhtsereg hütete sich selbst vor schweren Verbrühungen, nicht aber ihr Kind, das sie schützend vor ihr Gesicht hielt. Daraufhin nahmen die Behörden der Blume den kleinen Regenbogen weg und gaben Solongo in ein Heim.

Das Einzige, was ihre Eltern der 15-jährigen Gantuya hinterließen, ist die Angst. Eine Polizeistreife fand das Mädchen im Zentrum der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator, bei Minus dreißig Grad, vergewaltigt, halb erfroren, in zerschlissenen Sommerschuhen und mit vom Frost zerfressenen Zehen. Nun hockt Gantuya in einer Einrichtung am Stadtrand, deren Name nicht sehr einladend klingt: „The Childrens Home Adress Identification Division of the City Police Departement“. Hier bemühen sich Frauen wie Jalkhaya Oyumaa herauszufinden, wer da vor ihnen sitzt. Wie heißt du? Wie heißen deine Eltern? Wo leben sie? Weshalb bist du weggelaufen? „Mein Vater wurde von einem Auto überfahren“, sagt Gantuya unbewegt. „Danach starb meine Mutter vor Kummer.“ Ähnliches behaupten fast alle Straßenkinder. „Aber sie lügen. Sie erzählen uns Märchen“, weiß Officer Oyumaa. „Die Kinder misstrauen jedem. Sie fürchten, wir schicken sie zurück nach Hause.“

Das Beste, was Gaana für ihre fünfjährige Otgontsereg tun konnte, war sie loszulassen. „Meine Jüngste lebt im Wai-Ci-Ci“, erklärt die 39-jährige. Sie meint das katholische VCC, das „Verbist Care Centre“, eines von vierzig Heimen für Straßenkinder in Ulan Bator. „Ich besuche meine Kleine jede Woche. Und ich sehe, sie blüht wie eine Blume“, strahlt Gaana, so als entschädige sie das Wohl ihrer Tochter für etwas, was sie selbst vermisst: ein „echtes Zuhause“. Von einer Wohnung, mit Kochherd, Bettstatt und einem Schrank für die Wäsche, davon träumt Gaana, wenn sie vor der bitteren Kälte flieht und am zentralen Busbahnhof von Ulan Bator in eines der Kanallöcher hinabsteigt. „Manholes“, Menschenlöcher, heißen die unterirdischen Hohlkammern des städtischen Heizungssystems. Das Labyrinth aus meterdicken Heißwasserrohren ist der einzige Ort, an dem die Obdachlosen bei Temperaturen bis zu vierzig Grad unter Null den langen mongolischen Winter überleben können.

Gaanas Höhle misst zwei Mal zwei Meter. Das stickige Loch teilt sie mit ihrer ältesten Tochter Ankhtsereg und deren Säugling Ankhbayar. Als Schlafstelle dient ein feuchtklammes Nest aus zerschlissenen Wolldecken. In einer Ecke stehen zwei Mülltüten mit Altkleidern aus Caritasbeständen, dazwischen tummelt sich ein halbes Dutzend verwilderte Welpen. „Wo Hunde sind“, sagt Gaana, „sind keine Ratten. Nur diese widerlichen Kakerlaken, die kriegst du nicht weg.“

Volksschule, Ausbildung als Erzieherin, zehn Jahre Arbeit in einem staatlichen Kindergarten, Heirat, das erste Kind, kaputte Ehe, Scheidung, Straße. Gaanas Absturz in die Obdachlosigkeit fällt in jene Zeit, als der Zusammenbruch des Kommunistischen Ostblocks auch den Untergang der Sozialistischen Volksrepublik Mongolei einleitete. Die neunziger Jahre bescherten der neuen Republik zwar eine demokratische Verfassung, doch für viele Mongolen brachte die ersehnte Freiheit nur Arbeitslosigkeit und Enttäuschung. Und wie viele Ehemänner ließ auch Gaanas Mann allen Unmut an seiner Frau aus. „Er brach mir die Schulter, meine Augen waren von Faustschlägen zugeschwollen und mein Rücken schmerzt noch immer.“ Großflächige Narben zeugen von den Verbrennungen, die der Ehemann ihr mit kochendem Wasser zufügte. „Ich musste weg. Im Sommer ohne Wohnung, das ist kein Problem. Da lagern unten am Fluss viele Tausend Wohnungslose. Aber im Winter. Da bleiben nur die Löcher.“

Dort kennt jeder die Frau, die versucht, mit Stiefeletten, brauner Kunstlederhose und einer schwarzweißen Bomberjacke über drei dicken Pullovern „nicht verwahrlost auszuschauen“. Unter den Obdachlosen genießt Gaana einiges Ansehen. Ja, sie ist sogar so etwas wie die heimliche Königin der Gestrandeten. Sie schlichtet manch unseligen Streit, verprügelt bisweilen zudringliche Kerle, gibt Tipps wo gerade eine heiße Suppe oder gebrauchte Mäntel verteilt werden, nutzt ihre Kontakte zu Mitarbeitern internationaler Hilfsorganisationen. „Die Leute hören auf mich, weil ich meinen Verstand nicht vertrinke. Wodka in meiner Gegenwart, das dulde ich nicht. Schon gar nicht bei Kindern“, sagt die energische Frau, die offenbar das hält, was ihr Name verspricht. Gaana ist die Kurzform von Ganchimeg, zu Deutsch: „eiserner Schmuck.“ „Wer nicht hart ist“, sagt sie, „den bringt die Straße um. Wer sich nicht achtet, der tötet sich selbst.“

Doch Ganchimeg ist nicht nur Opfer sondern auch Täterin. „Wegen der Wut, die ich in mir trage. Mein Zorn ist so mächtig, dass ich höllisch aufpassen muss“, äußert sie nachdenklich über ihre eiserne Seite, die ihr die schwärzesten Jahre ihres Lebens bescherte. Das Tattoo mit der Spinne im Netz an ihrem Unterarm erinnert an die Zeit, als sie hinter Gittern saß. Gaana zeigt die Narben an ihren Handgelenken. Suizidversuche? „Nein, nein! Die stammen von den Handschellen.“ Im Streit um Geld hatte sie einer Frau ein Messer in die Lunge gestoßen und lebensgefährlich verletzt. Bis Ende der Neunziger musste sie für vier Jahre ins Frauengefängnis, wo sie wiederum mit einer Insassin aneinander geriet. „Wegen ein paar blöden Zigaretten zertrat ich ihr die Nase.“ Die Strafe: vier Wochen Einzelhaft. „Dunkelzelle. Ohne Licht. Da kann man irrewerden.“ Davor schützte sich Ganchimeg mit Liegestützen, Klimmzügen und mit Gesang. „Marschlieder von Soldaten und Wiegengesänge. Ich habe geweint und Kinderlieder gesungen. Von morgens bis abends.“

„Aber ich will nicht ungerecht sein“, fügt sie hinzu. „Der Direktor im Knast war streng, aber kein Unmensch.“ Er gab Gaana eine Chance und übertrug ihr die Verantwortung über die Näherinnen in der Gefängnisfabrik. „Ich hatte Respekt vor den Frauen und sie hatten Respekt vor mir.“ Ihr Ringen um Achtung und Selbstachtung, vielleicht sind sie der Grund weshalb die Polizei Gaana immer wieder aus ihrem Loch rufen lässt. Doch anders als früher wird sie nicht zur Wache beordert. Heute bittet man die Frau, die wie keine Andere das Milieu der Straße kennt, um ihre Mithilfe. Wie an diesem schneidend kalten Januarmorgen, als im dritten Distrikt zwei Tote zu identifizieren sind. Wie so oft im Winter.

Nicht die Kälte brachte den beiden namenlosen Männern den Tod, sondern die Hitze in den unterirdischen Schlupflöchern. Mit gewaltigem Druck strömt 100 Grad heißes Wasser durch die alten Heizungsrohre, die vom Rost zerfressen immer wieder Leck schlagen. Die Folge: binnen Sekundenbruchteilen wandeln sich die Manholes in ein dampfkochendes Inferno, das die Schlafenden verbrüht. Nach dem Besuch im Leichenschauhaus braucht Ganchimeg lange um ihre Sprache wieder zu finden. Dann sagt sie nur: „Wie soll ich zwei Menschen erkennen, die gar kein Gesicht mehr haben.“

Die Überlebenden landen im „Enerel“. Das heißt übersetzt „Gnade“, und so nennt sich das Regierungshospital im Osten Ulan Bators. Einst befand sich hinter der maroden Fassade eine Geburtsklinik, seit 1998 ist Enerel ein Armenkrankenhaus mit rund 10.000 Patienten pro Jahr. Die Ärzte verdienen hier sechzig Euro im Monat, dreißig Prozent mehr als in anderen Krankenhäusern. „Erschwerniszulage“, erklärt Dr. Danjinsuren und führt durch die Krankenstationen. „Zeigen Sie das in Ihrer Heimat“, sagt er und bittet ausdrücklich, alle Patienten zu fotografieren, für Bilder, die man nicht zeigen kann und darf. Schwarze Beine, amputierte Glieder, schwärende Wunden, faules Fleisch. Noch nach Tagen steckt der Gestank in der Kleidung. „Übler als die Erfrierungen sind die Verbrennungen“, erklärt der 50-jährige Mediziner. „Die Ärmsten trinken sich besinnungslos, schlafen neben den Heizungsrohren ein und ziehen sich grässliche Brandwunden zu. Jeden Tag haben wir hier drei, vier solcher Patienten. Und wir können ihnen nicht helfen.“

Die 65 Betten im Gnadenspital sind notorisch überbelegt. Es fehlt an Schmerzmitteln, von Operationsmöglichkeiten gar nicht zu reden. Die Rollstühle fahren mangels Reifen auf den Felgen und als Verbandsmaterial zerschneiden die Krankenschwestern alte Kittel. „Früher habe ich mir und den Kinder hier manchmal eine Spritze geholt, die für die Gesundheit gut ist“, sagt Ganchimeg. Heute muss sie erfahren, dass ihr Netz aus Kontakten beim Eintritt ins Enerel zerreißt. Medikamente für ihre Tochter Ankhtsereg, die seit Wochen hustet und Blut spuckt, gibt es nicht. „Dann wenigstens ein paar Vitamintabletten für mein erkältetes Enkelkind.“ „Tut mir leid“, erwidert Klinikdirektor Shagdar und fügt anklagend hinzu: „Auch im Kommunismus mangelte es an allem. Aber ein solches Elend wie heute gab es damals nicht. Und wissen Sie, wer all diese Not hervorgebracht hat? Das ist der freie Markt. Der kennt kein Erbarmen mit Menschen, die nichts leisten und nichts besitzen.“

Arm aber glücklich, so sieht das Bild aus, das Reiseberichte gemeinhin von den Bewohnern der Mongolei malen, einem Land, vier Mal so groß wie Deutschland, in dem sich gerade einmal 2,8 Millionen Menschen verlieren. Gewiss fasziniert das archaische Leben der Reiternomaden, die mit ihren Herden die Weite der Steppe durchwandern, ihre Jurten aufschlagen, Yakfleisch schmoren und Buttertee trinken. Wie sehr jedoch diese Lebensform bedroht ist, weiß der katholische Priester Gilbert Sales, der Leiter des Kinderheimes VCC. „Viele unserer Kinder stammen aus Familien, denen der Dzud die Existenz zerstört hat.“

Dzud ist für die mongolischen Hirten der Name für den Schrecken schlechthin, eine Katastrophe, durch die in vergangenen Wintern fünf Millionen Pferde, Kühe, Schafe und Ziegen verhungerten. Der Grund: Es hatte zu viel geschneit, das Thermometer war auf Minus 50 Grad gefallen. Das Vieh scharte sich auf der Suche nach Futter im Eis zu Tode. Zehntausende Nomadenfamilien verloren ihre Herde und zogen nach Ulan Bator, das seine Einwohnerzahl in zehn Jahren auf 900.000 Einwohner fast verdoppelt hat.

„Wie sollen Hirten mit ihren Kindern in der Stadt überleben?“, fragt Father Gilbert. „Sie können nicht lesen, haben keine Ausweise, keine Ausbildung. Nichts.“ Vor allem fehlt ihnen, was in der Steppe kaum Wert hat: Geld. Aber das braucht man in einer Großstadt, wo man für eine Kanne Milch keine Kühe und Kamele melkt sondern in einem Supermarkt an der Kasse anstehen muss. „Die Stadtkultur braucht keine Menschen, die sich selbst versorgen. Damit macht man keinen Profit“, meint der 43-jährige Sales. 1992 kam er als Missionar von den Philippinen nach Ulan Bator, erstaunt, dass es „nur Salz, Toilettenpapier und Wodka“ zu kaufen gab. Dann eröffneten die „Shopping-Studios“ und die „Nice-Price-Markets“, dann die feinen Restaurants für die Touristen und schließlich kamen die japanischen 40.000-Dollar-Jeeps, mit denen die Neureichen die Verlierer der Freiheit von der Straße hupen. Männer, Frauen und Kinder mit Müllsäcken über den Schultern. So wie Gaanas älteste Tochter Ankhtsereg. Obschon ihr mit einer verschleppten Lungenentzündung jeder Schritt zur Qual wird, ist die 19-Jährige jeden Tag  unterwegs um die Abfalltonnen der Restaurants nach leeren Flaschen und Getränkedosen zu durchwühlen. An den zahllosen Sammelstellen werden ihr die Aufkäufer dafür umgerechnet 45 Cent in die Hand drücken. „Als mich damals einige Kinder baten, mit ihnen in die unterirdischen Löcher zu kriechen, wusste ich, was meine Aufgabe ist“, erzählt Father Gilbert. Der Priester stellte einen Projektantrag an das katholische Hilfswerk „Misereor“ und erhielt Geld für den Bau des „Verbist Care center“. Heute trägt das Päpstliche Kindermissionswerk „Die Sternsinger“ in Aachen die Unterhalts- und Personalkosten des VCC, in dem 120 Kinder leben. Kinder wie Gaanas Jüngste Otgontsereg, wie Bayar oder Anouka. „Eeg durgui“ war der einzige Satz, den die sechsjährige Anouka noch vor wenigen Wochen abspulte. Wie vom Endlosband. „Ich hasse meine Mutter.“ Heute ist das gequälte und missbrauchte Mädchen der quirlige Liebling unter den Heimkindern. Oder Bayar, die nichts so sehr genießt wie die warmen Duschen, seit der Frost ihr die Füße zerfraß. Oder jenes Kind, das zeitlebens die Spuren schwerer Verbrühungen im Gesicht tragen wird: Solongo, der Regenbogen. Sie ist bereits acht, sieht aus wie vier, und da es ihr noch immer schwer fällt einen Kreis von einem Dreieck oder Quadrat zu unterscheiden, darf sie die erste Schulklasse ruhig öfter wiederholen. Dafür singt sie bei jeder Gelegenheit, lächelt und antwortet auf alle Fragen strahlend: „Onts, onts.“ Alles bestens, alles wunderbar.

Stolz präsentiert Pater Gilbert eine Fotografie, die ihn inmitten junger Erwachsener zeigt. Attraktive Frauen in schicker Garderobe, selbstbewusste Männer mit Schlips und Kragen, wie Söhne und Töchter aus besseren Kreisen. „Unser erster Jahrgang von Oberschulabsolventen!“ Auch wenn die erfolgreichen Schüler nichts von Gleichaltrigen unterscheidet, so haben die Jahre auf der Straße sie dennoch geprägt. „Sie brauchen Sicherheit und sehnen sich danach, einmal eine intakte Familie zu gründen“, meint Gilbert. Daher steht bei den Zukunftsplänen der Jungen eine Anstellung im Staatsdienst hoch im Kurs, ein Beruf in Uniform, beim Zoll oder bei der Polizei. „Ich will Stewardess werden. Bei der mongolischen Eisenbahn“, erklärt die 16-jährige Tserenkhand. „Ich hasse die Kälte. Aber bei der Staatsbahn trägt man im Sommer schöne Kostüme und Winter warme Kaschmirmäntel.“ „Eine Jurte unten am Fluss, wo immer der Ofen brennt. Und jeden Abend warmes Essen.“ Oft erzählt Ganchimeg ihrer jüngsten Tochter von ihrem Lebenstraum. Manchmal, in den Ferien oder an Feiertagen, besucht Otgontsereg ihre Mutter. Dann kehrt das Mädchen aus dem VCC für einige Tage in das Menschenloch am Busbahnhof zurück. Noch ist die Mutterliebe der Fünfjährigen größer als der Widerwille in den trostlosen Schacht hinab zu steigen. Doch das wird sich ändern. Seit Otgontsereg regelmäßig den Kindergarten besucht, ahnt Ganchimeg, dass ihre Jüngste sich irgendwann weigern wird die Nächte zwischen Ratten und Kakerlaken zu verbringen. Und auch den Traum ihrer Mutter von einer Jurte am Fluss wird sie nicht teilen. Denn als Ganchimeg ihre Tochter fragt: „Was gefällt dir im Wai-Ci-Ci am besten“, antwortet die Kleine nur mit dem schlichten Wort: „Alles.“
2007, erschienen in: Brigitte