Politisch korrekt: das Wort „Zigeuner“

„Wir sind Zigeuner, und das Wort ist gut“

Erschienen in „Die Welt“, Januar 2012

Als im Karpatenweiler Rosia die erste rumänische Alternativschule für Zigeunerkinder eingeweiht wurde, sorgten wohlmeinende Zeitungsreporter für eine Irritation. Die Ordnung politisch korrekter Begriffe geriet durcheinander.

Wer in den Lehmhütten unten im Dorf aufwächst, saugt schon mit der Muttermilch die Einsicht auf, vom Leben nicht viel erwarten zu dürfen. Das Misstrauen gegen die Regelschule ist stark ausgeprägt. Als die Eltern aus dem Unterdorf ihren Kindern schließlich erlaubten, im Pavillon im Oberdorf den Umgang mit Buchstaben und Zahlen zu erlernen, waren alle zufrieden. Die Politiker, die Pädagogen und die Presse, die sich für die „Scoala Waldorf“ zur Förderung der Romakinder begeisterte. Bis die Unterdörfler von den Zeitungsberichten erfuhren. Zum Entsetzen der Lehrer meldeten sie ihre Kinder wieder ab. Mit der Begründung: Wir sind keine Roma!

Ich vermutete, die Roma aus Rosia würden die Bezeichnung ablehnen, um nicht von der rumänischen Mehrheitsgesellschaft diskriminiert zu werden. Ein Irrtum. Die Roma hatten einfach nur einen schlechten Ruf. Die Leute schimpften auf kriminelle Clans, mit denen sie nichts gemein haben wollten. Einige Männer, die im Dorf Feuerholz schlugen, erklärten: „Wären wir Roma, würden ihre Chefs die Geldeintreiber schicken und wir müssten Tribut zahlen. Aber wir sind keine Roma. Wir sind Tzigani.“

Wir sind Zigeuner! 1990 schon hatte ich ungarnstämmige Gabor-Sippen kennengelernt, die darauf bestanden „Cigány“ genannt zu werden. Mit dem Dünkel der Aufgeklärtheit hatte ich dies als Mangel an ethnischem Bewusstsein gedeutet. Nur traf ich in Südosteuropa immer öfter Zigeuner, die mit dem Begriffspaar „Sinti und Roma“ nichts anzufangen wussten. Auch die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller schreibt: „Ich bin mit dem Wort ‚Roma‘ nach Rumänien gefahren, habe es in den Gesprächen anfangs benutzt und bin damit überall auf Unverständnis gestoßen. ‚Das Wort ist scheinheilig‘, hat man mir gesagt, ‚wir sind Zigeuner, und das Wort ist gut, wenn man uns gut behandelt.'“ Und der Autor Franz Remmel zitiert den Bulibascha, das Oberhaupt der rumänischen Zigeunerfamilien: „Sagst du zu mir Rom, dann beleidigst du mich. Nennst du mich Zigeuner, dann sprichst du mir zu Herzen.“

Das sieht Romani Rose ganz anders. Seit 1982 sitzt er dem Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma vor und gilt in der Öffentlichkeit als der Repräsentant seines Volkes. Für Rose ist „Zigeuner“ eine beleidigende Fremdbezeichnung der Dominanzgesellschaft, mit „rassistischen Zuschreibungen“, die sich „über Jahrhunderte reproduziert, zu einem geschlossenen und aggressiven Feindbild verdichtet haben“.

Auch in dem Handbuch „Sinti und Roma von A bis Z“, gefördert mit Mitteln des baden-württembergischen Innenministeriums, heißt es, der Begriff „Zigeuner“ werde als „ ein mit Klischees und Vorurteilen belastetes Schimpf- und Schmähwort“ von den Betroffenen „besonders heftig abgelehnt“.

Mag sein. Nur deckt sich die Behauptung nicht mit meinen Erfahrungen. Und sie widerspricht auch den Einsichten, die der Ethnologe Rüdiger Benninghaus gewonnen hat. Etwa auf deutschen Friedhöfen, wo der Kölner eine Fotosammlung von Grabinschriften zusammengetragen hat. Wenn „Zigeuner“ ein Schmähwort ist, wieso nannte seine Familie den 2007 im Rheinland beerdigten Josef Demeter auf seinem Grabstein „Präsident der Zigeuner“?

Auch der in Koblenz ruhende „Zigeunerbaron“ Bernhard Chicco Reinhardt will nicht in das Klischee rassistischer Vorurteile passen, so wenig wie der „Zigeunerkommissar“ Rudolf Goman und die „Zigeunerprinzessin“ Saura Demeter. Künstler wie der 2008 verstorbene Geiger Titi Winterstein oder der Gitarrist Hänsche Weiss haben ihre Musik unter dem Label „Musik deutscher Zigeuner“ veröffentlicht.

Und natürlich hat sich Lolo Reinhardt mit seiner Lebensgeschichte „Überwintern – Jugenderinnerungen eines schwäbischen Zigeuners“ nicht selbst beleidigt. Der Sinto erzählt darin von den Leiden seiner Familie unter den Nationalsozialisten, die ihm vieles genommen haben, aber nicht das zigane Selbstwertgefühl.

Lange schien es, als drohten ein souveränes Bekenntnis zur eigenen Herkunft und ein unbefangenes Gespür für die eigene Würde im Schatten der etablierten Opferverbände zu verkümmern. Doch Gegenstimmen verschaffen sich Gehör. Etwa mit Natascha Winter, der Vorsitzenden der Sinti Allianz Deutschland. Anstatt sich bei jeder Gelegenheit mit immergleicher Rhetorik über die Diskriminierungsgeschichte ihres Volkes zu entrüsten, dreht sie den Spieß einfach um. Sie stärkt die selbstbewussten Kräfte ziganer Identität.

„Ich bin glücklich und stolz, eine echte Zigeunerin zu sein. Beide Elternteile waren Zigeuner. Ich gehöre dem Volk der Sinti an, genauer gesagt, ich bin von den Württembergern“, bekundet die Sinteza. Sie widersetzt sich damit dem Erbe auch der verbalen Barbarei der Nazis, die mit dem Völkermord an den Zigeunern auch deren Namen pervertiert haben. Nur bindet sich Natascha Winter eben nicht an die Verachtung, mit der Menschenfeinde ihrem Volk begegnen. Für sie gereicht der Name „Zigeuner“ den Zigeunern zur Ehre.

Tziganes, Cigány, Zingaros oder Gitanos, ähnliche Bezeichnungen haben vermutlich ihre Wurzel in den „Athinganoi“, einer mittelalterlichen Sekte von „Unberührbaren“. Zudem glaubte man in Europa bis in die Neuzeit, die Fremden seien ursprünglich Ägypter gewesen. Gypsies. Die Hüter diskriminierungsfreier Terminologie sehen auch darin eine Fremdbezeichnung. Während sie meinen, ihre „Sinti und Roma“ vor jedweder Beleidigung schützen zu müssen, machten Musiker wie die Gypsy Kings ihren Namen zur weltweiten Marke. Und der spanische Flamenco-Sänger Cameron de la Isla sang „Soy gitano“, trotzig und stolz: „Ich bin Zigeuner!“

Eine semantische Verunsicherung löste Natascha Winter im letzten Jahr aus, als sie die Spielregeln opportunen Sprachgebrauchs außer Kraft setzte. Mit einem Brief an die Landtagspräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern Sylvia Bretschneider. Was war geschehen? Der NPD-Abgeordnete Tino Müller hatte im Schweriner Landtag beantragt, fünfundfünfzig in Mecklenburg geduldete kosovarische Roma unverzüglich in ihre Heimat abzuschieben.

Mit stockender Stimme hatte er seine unterkühlte Rede vom Blatt abgelesen, wobei Müller einige Male das Wort „Zigeuner“ verwendete. Der Vizepräsident des Landtags, der Freidemokrat Hans Kreher, wertete den Begriff als diskriminierend und schaltete dem Nationalisten nach drei mahnenden Ordnungsrufen das Mikrofon ab. Abgesehen davon, dass der Zentralrat bei der anschließenden Strafanzeige wegen Volksverhetzung, Beleidigung und Verleumdung irrtümlich annahm, der NPD-Mann habe seine Rede im sächsischen Landtag in Dresden gehalten, hatten sich die Kontrollmechanismen und Sanktionsrituale der Demokratie bewährt.

Bis Natascha Winter erklärte, der Ordnungsruf gegen Tino Müller habe in ihrer Gemeinschaft besorgte Diskussionen ausgelöst. „Die Verwendung des Begriffs Zigeuner“  schrieb sie, „sollte nicht zu einem Ordnungsruf führen. Dies trägt dazu bei, dass die Volksbezeichnung von zwölf Millionen Menschen, die in Europa leben, tabuisiert wird.“

Damit hatte Frau Winter selber ein Tabu berührt. Ihre Begründung: „Eine positive Einstellung zu uns und unseren Kulturen erreichen wir nicht, indem wir leugnen, Zigeuner zu sein und jedem mit Strafverfolgung drohen, der den Begriff Zigeuner wertfrei verwendet. Die Entgleisungen von Herrn Müller wären nicht dadurch akzeptabler gewesen, wenn er statt von Zigeunern von Roma gesprochen hätte.“

Natascha Winter sagt, die Bezeichnung „Zigeuner“ sei für die Zigeuner nie ein Thema gewesen, ja sie hätten sich gegenüber Außenstehenden selbst so genannt. Zugleich beklagt sie, eine „Minderheit von Vereinsfunktionären“ bezeichne jeden als Rassisten, der den Begriff verwendet.

Fairerweise muss erwähnt werden, dass die Nichtzigeuner unter den Meinungswächtern weitaus eifriger sind als die Roma selbst. „Versorgen Sie uns mit Nachrichten“, fordern die Akademiker der Gesellschaft für Antiziganismusforschung in Marburg ihre Sympathisanten auf. „Bitte machen Sie rassistische und diskriminierende Aktionen gegen Sinti und Roma in Ihrem Umfeld bekannt und achten dabei auf die Reaktion Ihres Visavis“.

Derlei Besorgnis erwächst nicht immer aus fürsorglichem Edelmut. Der Kölner Völkerkundler Rüdiger Benninghaus wie auch das bulgarische Ethnologenehepaar Elena Maruschiakova und Vesselin Popov beargwöhnen eine ausufernde „Gypsy-Industry“, bei der immer mehr Organisationen um Fördermittel und Projektbudgets buhlen. „Man darf nicht vergessen“, so Natascha Winter, „dass hier erhebliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden. Geschätzte 95 Prozent der Forschungsresultate stammen doch aus der Feder von Nichtzigeunern. Ähnlich ist es mit dem Zentralrat, alle hauptamtlichen Mitarbeiter sind durchweg keine Zigeuner. Es wird unsere Kultur zugunsten von Fördergeldern geopfert.“

 Wer die Zigeuner vor den „Sinti und Roma“ favorisiert, bekommt vom Kuchen der Finanzen keinen Krümel ab. Bernhard Streck, der emeritierte Direktor des Leipziger Instituts für Ethnologie, meint: „Es geht bei diesem Namensstreit einzig um Macht, Einfluss und Gelder. Und um ein schlechtes Gewissen bei Journalisten, die unter keinen Umständen unkorrekt erscheinen möchten.“

„Ihr Linken habt immer Probleme mit dem Wort Zigeuner“, zitierte sogar das sozialistische „Neue Deutschland“ den Violinisten Markus Reinhardt, der die Wortakrobatik „Sinti und Roma“ zu „Quatsch“ erklärte. Auf der Webseite des Musikers steht ein Liedtext: „Wir gehen unseren Weg und bleiben auf der Welt, weil wir immer wieder anders erscheinen. Weil wir Zigeuner sind.“

„Zigeuner“, erklärt Romani Rose in Interviews, „so haben wir Sinti und Roma uns niemals selbst genannt“. Da darf man korrigieren. Rose selbst hat den Begriff ohne Bedenken verwendet. Zumindest, als er noch nicht Vorsitzender des Zentralrats war.

Da warnte er den Bürgermeister von Darmstadt, Kirchen- und Presseleute in einem Brief vor „skrupellosen Roma“ und „dubiosen Geschäftemachern“. Sie würden „die Zwangssituation heimatloser Zigeuner zur persönlichen Bereicherung ausnutzen“, in dem sie ausländischen Roma „gegen beträchtliche Summen“ Asylmöglichkeiten in Darmstadt versprachen. Mit derlei Aussagen ist man als Nichtzigeuner heute ein Rassist. Wenn man Glück hat. Hat man Pech, kommt noch eine Strafanzeige wegen Volksverhetzung hinzu.